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Was die kleine Maschine zu berichten wußte

Region Krasnojarsk, Bezirk Atschinsk
Städtische Bildungseinrichtung – Kljutschinsker allgemeinbildende Mittelschule

Forschungsarbeit

Autorin: Swetlana Korch
Schülerin der 8. Klasse

Projektleitung: Monika Viktorowna Legkich, Lehrerin für Geschichte und Gesellschaftskunde
Kljutschinsker allgemeinbildende Oberschule

Inhaltsübersicht

Einführung
Kapitel I.
1.1 Erste Geschichte „Meine Urgroßmütter“
1.2 Zweite Geschichte „Mein Erfinder“
1.3 Dritte Geschichte „Wie ich nach Rußland kam“
Kapitel II.
2.1 Vierte Geschichte „Meine Besitzerin“
Schlußbemerkungen
Literaturangaben

Einführung

Im Heimatkundemuseum unserer Schule bin ich für den Bereich „Leben und Alltag der nach Sibirien verbannten Wolga-Deutschen“ zuständig. Kürzlich tauchte im Museum ein neues Exponat auf, ein altes Stück aus unserer Familie – eine Nähmaschine der Marke „Singer“. Zu meinen Pflichten als „Museumsmitarbeiterin“ gehört es, genaue Informationen und Kenntnisse darüber zu erlangen, wer der Schöpfer des jeweiligen Gegenstandes war und in wessen Besitz er sich befand, das heißt eine sogenannte Legende der betreffenden Objekte zu erstellen. Diese Aufgabe erwies sich als nicht besonders schwierig, aber dafür um so interessanter, denn sie betraf unmittelbar meine eigene Familie.

Dieses Thema interessierte mich nicht einfach nur, es warf auch eine Menge Fragen auf; und die wichtigste von ihnen war „Was weiß so eine alte Nähmaschine zu berichten?“. Ich beschloß meine Forschungsarbeit der Klärung dieser Frage zu widmen.

Im Verlauf meiner Arbeit wurde mit klar, dass ich die vorliegende Aufgabe, die ich mir selber gestellt hatte, von zwei Seiten angehen mußte:

1. Ich hatte immer geglaubt, und auch in der Familie nichts anderslautendes darüber erfahren, dass Singer eine deutsche Firma ist und sich demzufolge solche Nähmaschinen nur in deutschen Familien befinden können. Wie groß war meine Verwunderung, als ich erfuhr, dass es sich bei Singer um eine amerikanische Firma handelt. Wie konnte eine amerikanische Nähmaschine in eine rußlanddeutsche Familie gelangen?

2. Wie konnte diese Nähmaschine ins weit von Amerika entfernte Sibirien gelangen?

Ich beschloß, innerhalb meiner Familie Näheres darüber zu erfahren. Und wie sich herausstellte, ist diese kleine Nähmaschine nicht bloß ein altes Familienstück, nein, genau sie ist es, die unser Geschlecht vor dem Aussterben gerettet hat. Deswegen sollte sie auch Gegenstand meiner Forschungsarbeit werden.

Forschungsziel: anhand der Geschichte eines Gegenstandes (der Nähmaschine) die Geschichte der eigenen Familie und eines ganzen Volkes aufzuzeigen.

Aufgabenstellung:
- Klärung der Herkunft des Forschungsgegenstands – der Nähmaschine
- Klärung der Frage, wie eine amerikanische Nähmaschine in eine rußlanddeutsche Familie gelangen konnte
- Sammeln von Informationen über den letzten Besitzer des Gegenstands
- Erstellen einer Chronolgie der Ereignisse zur Geschichte des vorliegenden Gegenstandes
- Erstellen einer Analogie der ermittelten Ereignisse mit dem Schicksal des deutschen Volkes
(der Bevölkerung der Wolga-Region)

Thematischer Gegenstand der Forschungsarbeit: das Schicksal der Familie Margert

Sachgegenstand der Forschungsarbeit: die Geschichte einer Nähmaschine

Forschungsmethoden:
• Vergleichende Analyse und Synthese (Studium spezieller Literatur zur theoretischen
Klärung der Fragen)
• Konkret-historische Methode
• Interviews
• Analogisierung

Hauptquellen der Forschungsarbeit sind Nachschlagewerke und Spezial-Literatur sowie Internet-Ressourcen. Eine besondere Gruppe der Informationsquellen stellen Materialien persönlicher Herkunft dar; dies sind vor allem Erinnerungen einzelner Mitglieder meiner Familie. Ihre Verwendung ermöglichte es, die Ereignisse aus der Sicht derer zu betrachten, die persönlich daran teilgenommen haben.

Habt ihr jemals gehört, was eine kleine Nähmaschine zu erzählen weiß? Dann setzt euch ganz leise neben sie und hört ihrem gleichmäßigen Rattern zu. Ich kann euch versichern, dass ihr eine Menge Interessantes erfahren werdet.

In unserer Familie befindet sich eine solche Maschine der Firma „Singer“, und sie hat mir eine Menge interessanter Geschichten erzählt.

Kapitel I.

1.1. Erste Geschichte „Meine Urgroßmütter“

Unser Maschine besitzt auch ein Familienalbum, in dem sich Fotos ihrer Urgroßmütter befinden. Jede dieser Fotografien kann eine Menge über die Geschichte der Herkunft der Nähmaschinen berichten.

Darüber, wie man das Nähen leichter machen könnte, hat man sich schon vor langer Zeit Gedanken gemacht; bereits Mitte des 14. Jahrhunderts wurden Versuche unternommen, den Vorgang des Nähens zu mechanisieren. Das erste Nähmaschinenprojekt für die Herstellung von Kleidungsstücken entstand 1496 durch Leonardo da Vinci, aber das allererste Patent für einen Apparat, der mit einer Nadel mit zwei spitzen Enden und einem Loch zum Einfädeln des Fadens in der Mitte ausgestattet war, erhielt 1755 der Engländer Charles Weisenthal. Die Nadel durchstach den Stoff einmal von oben und einmal von unten- ohne sich dabei zu drehen. Die Erfindung war noch sehr unvollkommen und fand deswegen keine Verbreitung.

Ziemlich lange, allerdings ergebnislos, wurden Versuche unternommen, einen Nähmechanismus zu konstruieren, und erst fast vierzig Jahre später, im Jahre 1790, erwarb der Erfinder Thomas Saint das Patent für die erste richtige Nähmaschine, mit der man Stiefel nähen konnte. Die Maschine verfügte über einen Handantrieb, und das Oberleder der Stiefel wurde, entsprechend der Nadelbewegung, ebenfalls per Hand bewegt. Laut Beschreibung besaß die Maschine eine Ahle, welche zunächst ein Loch ins Leder stieß und es auf diese Weise der Nadel ermöglichte, durch diese Öffnung zu stechen. Fast ein ganzes Jahrhundert später wurden Versuche unternommen, Saints Maschine nach dessen Zeichnungen nachzubauen, aber es stellte sich heraus, dass es einen erheblichen Arbeitsaufwand bedeutet hätte, sie tatsächlich in einen funktionsfähigen Zustand zu versetzen; und so beschloß man schließlich, die Saint-Nähmaschine doch nicht zu bauen. (Große russische Enzyklopädie. – Moskau. Wissenschaftlicher Verlag „Große russische Enzyklopädie“, 2007, S. 556).

Der Erste, der zwei Fäden für ein- und denselben Stich verwendete, war der österreichische Schneider Josef Madersperger aus Wien, der eine Nähmaschine nach dem Prinzip eines Webstuhls baute. Allerdings fand sie aufgrund von Unvollkommenheiten bei der Konstruktion keine verbreitung.

Nach der von Madersperger im Jahre 1814 erfundenen Nadel mit einem Öhr am spitzen Ende begannen die Erfinder an der Entwicklung einer Möglichkeit Steppnähte zu fertigen. Das Glück winkte dem Franzosen B. Timonais, der 1830 eine Maschine herstellte, die in der Lage war einen Kettenstich auszuführen. Sie gelangte mit insgesamt 80 Exemplaren auf den Markt und diente hauptsächlich dem Mähen für Armeezwecke. Auf diesen Maschinen wurden in speziellen Werkstätten in Paris Soldatenuniformen genäht.

Die Ehre der Erfindung einer Nähmaschine mit Steppfuß gehört Amerika. Als Erster verwendete Walter Chant einen Steppfuß für eine Nähmaschine; er baute zwischen 1832 und 1834 eine Maschine mit gerader Nadel, einem Öhr an der Spitze und einem Steppfuß, der dem an einem Webstuhl ähnelte. Allerdings wurde die Maschine nicht patentiert, denn sie arbeitete unzuverlässig.

Zur gleichen Zeit wie Timonais und Chant arbeitete auch der Amerikaner Elias Howe, der in einer Fabrik für Textilmaschinen tätig war, an der Schaffung einer Nähmaschine. In seine eigene Erfindung brachte er einige Elemente des Webstuhls mit ein, unter anderem das Abbild des sogenannten Schiffchens. Im Jahre 1845 E. Howe erhielt das Patent für die erste richtige Nähmaschine mit Steppfuß, die mit einer Geschwindigkeit von dreihundert Stichen pro Minute arbeitete. Und obwohl das Patent für die Erfindung in England erworben worden war, gilt Amerika als rechtmäßige Wiege der Nähmaschine.


Steppfuß-Nähmaschine von Elias Howe


Fabrikmäßig-gewerbliche „Howe“-Nähmaschine (1865-1875)

Howes Erfindung bedurfte der Vervollkommnung. Beschleunigt wurde dieser Prozeß durch die talentierten amerikanischen Erfinder Allen Wilson, James Gibbs, John Bachelder und den genialen Unternehmer Isaak Merrit Singer, der seinerzeit mit seiner Familie aus Deutschland emigriert war und sich in New York niedergelassen hatte. 1851 schuf Singer eine der ersten Nähmaschinen für den alltäglichen Gebrauch, deren Nadel in vertikaler Position angebracht war. 1852 verkaufte Singer seine erste Nähmaschine zum Preis von 100 Dollar; 1854 gründete er, gemeinsam mit Edward Clark, die „Singer Company“. Ein Jahr später bekam er für seine Erfindung den ersten Preis auf der Weltausstellung in Paris. Die Singer-Maschinen erfreuten sich einer riesigen Nachfrage in ganz Amerika. (Vom Pflug zum Laser. „Elektronische interaktive Enzyklopädie – Das Tor zur Welt der Wissenschaft und Technik“, Dorling Kindersly, 1998).


Nähmaschine der Firma „Singer“

Bereits in den 1870er Jahren tauchten die ersten Maschinen mit Elektroantrieb auf. Eine von ihnen wurde von Jones in Amerika patentiert, die andere (System Willer-Wilson) wurde von W.N. Tschikolew in Rußland angeboten und 1872 auf der Allrussischen politechnischen Ausstellung in Moskau vorgestellt.


Nähmaschine mit Doppel-Steppvorrichtung und gebogener Nadel der Firma „Willer & Wilson“

1.2. Zweite Geschichte „Meine Erfinder“

Im Jahre 1811 wurde in Amerika, in dem kleinen Städtchen Troy im Staat New York, ein kleiner Junge geboren, den seine Eltern Isaak nannten. Seine Familie war aus Deutschland emigriert. Sein Vater arbeitete als Kutschenbauer. Der Kleine war oft ungehorsam. Das rebellische Verhalten gegen jegliche Zucht und Ordnung lag dem Knirps im Blut. Das Sichunterordnen und Friedenhalten gehörte nicht zu seinen Gewohnheiten. 1823, im Alter von 12 Jahren, beendete Isaak seine schulische Ausbildung, verließ sein Elternhaus und machte sich eiligst auf den Weg nach Rochester, das am Ufer des Ontario-Sees liegt, um dort bei einem ortsansässigen Mechaniker als Handwerksgeselle unterzukommen.


Isaak Merrit Singer

Er eignete sich ziemlich schnell die Grundlagen dieses Berufs an, aber die Arbeit an ein- und demselben Ort langweilte ihn schließlich. Und so entschloß sich der junge, unruhige Mann sein Leben als Wanderschauspieler zu fristen. Er reiste in den Vereinigten Staaten herum und machte mal bei dieser, mal bei jener Wandertruppe mit. Als er zwanzig Jahre alt war, begann Singer das Wander-Theaterdasein zu langweilen. Er hatte genug vom Vagabundenleben und beschloß zu seinem vorherigen Handwerk zurückzukehren; so suchte er sich Arbeit in einer Holzverarbeitungsfabrik in der Stadt Fredericksburg (Staat Ohio). Aus purer Langeweile entwickelt er eine Holzverarbeitungsmaschine und baut eine Sägemühle. Die Maschine findet rege Nachfrage, so dass Singer es 1849 fertigbringt, damit sogar etwas Geld zu verdienen, mit dem er aus Ohio gen Osten reisen konnte, nach New York. In New York lernte er den Verleger George Zieber kennen (Große Russische Enzyklopädie. – Moskau, Wissenschaftlicher Verlag „Große Russische Enzyklopädie“, 2007, S. 556.).

Ob das Verlagsgeschäft des neuen Freundes nicht gut ging oder ob es Singers Temperament und Überredungskunst waren, die hier eine Rolle spielten – jedenfalls verstand Singer es, diesen mit seiner patentierten Maschine zu begeistern und ihn zu überreden, sie in der Stadt Boston bauen zu lassen.

Aber durch die Laune des Schicksals kam es so, dass das Büro, das sie angemietet hatten, sich in der Werkstatt von Orson Phelps befand, der Nähmaschinen produzierte, welche allerdings keinen sonderlich großen Absatz fanden.

Auch bei Singer und Zieber liefen die Geschäfte, entgegen ihren Erwartungen, schlecht – ihre Holzverarbeitungsmaschine stieß auf kein Interesse seitens der Käufer. Das Nichtstun tat nun sein Übriges, denn Isaak war stets ein breger und impilsiver Mensch gewesen, und um sich nur mit irgendetwas zu beschäftigen, beginnt er die Konstruktion von Phelps Nähmaschinen eingehend zu studieren. Die Maschine von Orson Phelps war ein wenig kleiner und leichter als die existierenden Nähvorrichtungen, aber aufgrund der vom Mißerfolg gekrönten Bauteile „Nadel – Schiffchen“, verhedderte sich andauernd der Faden und riß dann durch das sich drehende Schiffchen. Außerdem konnte sie nicht mehr als ein Dutzend Stiche in Folge bewerkstelligen; dann mußte man den Stoff heruasnehmen und mit dem Nähen noch einmal von vorn anfangen. Es war auch nur möglich, schnurgerade Steppnähte anzufertigen.

Den Stoff dabei im Bogen zu führen – davon konnte überhaupt keine Rede sein.


Nähmaschine der Firma „Singer“

Singer begriff, dass der Hauptmängel der Maschine beim Schiffchen lag. Nachdem Issak alle Unzulänglichkeiten in der Konstruktion der vorangegangenen Modelle analysiert hatte, nahm er eine Veränderung vor: erstens ordnete er das Schiffchen horizontal an, der Faden hörte auf sich zu verheddern und ungewollt aufzuwickeln; zweitens entwarf er ein Tischbrett für den Stoff und einen Fußhalter – dies ermöglichte ein Nähen ohne Unterbechung, und drittens installierte er ein Fußpedal, wobei er mit Recht in Erwägung zog, dass eine zusätzliche, freie Hand dem Nähen sicher keinen Abbruch tat. Zehn Tage verstrichen. Die Freunde bekamen einander fast überhaupt nicht zu sehen. Aber dann erschütterten diese zehn Tage buchstäblich die ganze Welt und machten einen Erfinder reich. Am elften Tag all der kreativen Qualen stand vor Zieber und Phelps eine neue, verbesserte Nähmaschine.

So wurde die neue Nähmaschinenfabrik Singer-Zieber-Phelps geboren. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten. Der erste Großauftrag kam bereits Ende 1850. Eine Oberhemden-Näherei in New Heaven bestellte gleich eine ganze Partie von 30 Maschinen zu je 100 Dollar. Zum Frühjahr 1851 blühte und gedieh die Gesellschaft, Geschäfte und Gewinn hatten sich um ein Vielfaches vergrößert. Zu dieser Zeit beschließt der erfolglose Phelps aus dem geschäft auszusteigen, und der ihm gehörende dritte Teil der Firmenaktien geht auf den bekannten Advokaten Edward Clark über, der im Gegenzug nicht nur verspricht, die Firma über einen Zeitraum von zwanzig Jahren zu beraten, sondern auch eigene Geldmittel für ihre Weiterentwiclung einbringt. Im Herbst desselben Jahre tritt auch Zieber von der Bühne ab. Er verkauft seinen Anteil an Singer und Clark. So entstand einer der merkwürdigsten und zugleich auch erfolgreichsten Zusammenschlüsse in der Geschichte des Business: der unruhige Geist und Phantast Singer und der ausgeglichene, sparsame, umsichtige und vorsichtige Clark.

Isaak Singer war den 23 Kindern von seinen zahlreichen Ehefrauen ein fürsorglicher Vater. Er starb 1875. Singers Nachfahren verkehrten in der vornehmen oberen Gesellschaft; seine letzte Ehefrau, Isabelle Singer, wurde zur Vorlage für die Freiheitsstaue in New York.

1.3. Dritte Geschichte „Wie ich nach Rußland kam“

Die erste Fabrik heimischer Nähmaschinen eröffnete Robert Wilhelm Getz (Götz?) 1866 in Sankt Petersburg. Hier organisierte wenig später der Kaufmann der ersten Gilde – Leon Kastelejon – die Produktion von Nähmaschinen für unterschiedliche Einsatzzwecke.

Während ihrer Blütezeit, in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, gelangte die „Manufakturgesellschaft Singer“ auf den russischen Markt. 1896 erblickte die russische Aktionärsgesellschaft „Manufakturgesellschaft Singer“ (ab 1901 „Singer-Kompagnie in Rußland“) das Licht der Welt. Aber die Einfuhr fertiger Nähmaschinen aus dem Ausland erforderte einen ziemlich hohen Kostenaufwand, was zu einer Verteuerung der Maschinen und, als Folge davon, zu Absatzschwierigkeiten führte. Daher beschloß man, in Rußland eine eigene mechanische Fabrik zu gründen. Die Wahl fiel auf Podolsk, wo die Gesellschaft im Sommer 1900 ein Grundstück erwarb und sogleich mit dem Bau begann. Zum Jahr 1902 war das Fabrikgebäude fertiggestellt. Zum Direktor ernannte man den deutschstämmigen Walter Frank Dikson, der bis 1917 auf diesem Posten blieb. Die Dokumentation wurde auf Deutsch geführt (wahrscheinlich sind deswegenimmer noch viele unserer Landsleute der Meinung, dass „Singer“ eine deutsche Firma ist).


Nähmaschine der Firma Singer

1902 wurde mit dem ersten Produktionsausstoß begonnen – von sogenannten Nähmaschinen für den Familien- und Alltagsgebrauch. Zum Jahr 1913 war der Bruttogewinn um mehr als das Siebenfache angestiegen, der Ausstoß an Nähmaschinen für den täglichen Hausgebrauch hatte 600.000 Stück überschritten – das war das höchste, was je zuvor und auch in der Folgezeit produziert wurde. Die Nähmaschinen wurdenin über 3000 firmeneigenen Geschäften verkauft, die sich im ganzen russischen Imperium verstreut befanden.In ihnen konnten die Käufer diese Maschinchen auf Ratenkauf erwerben. Dank der hervorragenden Qualität ihrer Produkte erwarb die „Singer“-Kompagnie das Recht auf den Titel „Hoflieferant Seiner Majestät“.


Nähmaschine der Firma Singer

Das Jahr 1917 bedeutet einen Bruch in der Geschichte des podolsker Unternehmens. Um seine endgültige Schließung zu verhindern, verpachtete die „Singer“-Kompagnie die Fabrik zu Sonderkonditionen an die Vorübergehende Regierung.

Im November 1918 wurde die Fabrik verstaatlicht. Nach der Verstaatlichung wurde die Hauptproduktion eingestellt, die Zahl der Arbeiter mehrfach gekürzt. Hier begannman nun Bratpfannen, Pflugschare, gußeiserne Töpfe und Bügeleisen herzustellen.

Erst 1924 rollten dann die ersten sowjetischen Maschinen vom Band. Schon ein Jahr später war die Produktion um das Vierfache angestiegen. Das Jahr 1928 brachte eine Unterbrechung für die Fabrik. Bis zur Revolution waren 75% der Teile aus dem Ausland gekommen. Von diesem Jahr an wurden die Nähmaschinen ausschließlich aus heimischen Einzelteilen zusammengebaut.

Der Krieg machte es notwendig, die Produktion vorübergehend umzuorganisieren. Es wurden Minengehäuse, Projektile und Sprengbomben für Flugzeuge hergestellt.

Im Juli 1946 wurden die ersten 100 Nähmaschinen für den täglichen Gebrauch montiert – die Nachkriegsproduktion diente nun wieder friedlichen Zwecken.

Ende der 1950er Jahre stieß die Fabrik auf eine für sie gänzlich neue Erscheinung – Di Krise durch Überproduktion. Der Plan des Jahrs 1957 war auf etwa 3 Millionen Nähmaschinen festgelegt worden. Die Nachfrage nach Nähmaschinen ging zurück, so dass der Plan auf 1,2 Millionen Stück gekürzt werden mußte. Jetzt wurden die Probleme sichtbar, die durch qualitative Veränderungen bei der Konstruktion und Technologie entstanden waren. Es vergingen einige Jahre, und auf dem Fließband des Unternehmens tauchte eine im Prinzip ganz neue Nähmaschine des Typs „Zickzack“ auf, welche die bezeichnung „Möwe“ erhielt (F.I. Tscherbjakow; N.W. Tschumarokow. Nähmaschinen. – Moskau, 1968: J. Tschermanowa „Auf einer Wiese aus Stoff tanzt das Dünnbeinchen“, Journal „Und warum?“, N° 6, 1994).

Kapitel II

Vierte Geschichte „Meine Besitzerin“

Und so nahm die Singer-Nähmaschine Einfluß auf die Geschichte unserer Familie. Diese Geschichte erfuhr ich von meiner Großmutter Antonina Genrichowna Korch (Margert), ihrer Schwester und anderen Verwandten.

Die Geschichte begann an der Wolga, in dem Dorf Krasnij Jar, Gebiet Saratow, wo meine Vorfahren mehrere Jahrhunderte lebten.

Ìàðãåðò ÝìèëèÿDie Hauptheldin meiner Geschichte ist meine Urgroßmutter – Emilia Genrichowna Margert (geboren am 23. Juni 1914). Ihre Kindheit und Jugend verbrachte sie am wunderschönen Ufer der Wolga. „Zur Schule ging ich erst spät, insgesamt durchliefe ich vier Schulklassen; länger ging man damals nicht zur Schule; aber unterrichtet wurde auf Deutsch. Als sie mit der Schule fertig war, suchte Milja Arbeit in der Schweinefleischfabrik. Sie konnte hervorragend handarbeiten und, obwohl sie keine besondere Ausbildung gemacht hatte, erlernte sie innerhalb kürzester Zeit den Beruf einer Näherin“ (Erinnerungen von W.F. Margert; I.G. Bereschnaja (Margert). Ausgerechnet die Nähmaschine half der Familie zu überleben und uns, die Kinderschar, mit dem nötigen Stückchen Brot zu versorgen.).

Die Familie Margert besaß ein „großes Fünfwand-Haus. Alle lebten einträchtig miteinander: die Mama, alle Kinder und ihre Familien. Zuhause herrschte kein Mangel“. (Erinnerungen von W.F. Margert; I.G. Bereschnaja (Margert). Ausgerechnet die Nähmaschine half der Familie zu überleben und uns, die Kinderschar, mit dem nötigen Stückchen Brot zu versorgen.).

Während des Bürgerkriegs entfielen auf ihr Los nicht wenige harte Herausfoderungen und Schicksalsschläge. Der Vater ging an die Front. Die ganze Hausarbeit lag auf den Schultern der Frauen und Kinder.

Als sie durch die deutschen Kolonien an der Wolga und in derUkraine marschierten, schleppten die weißen Truppen, und anschließend die Roten, alles mit sich fort, was sie nur tragen konnten: Lebensmittelvorräte und Fuhrwerke, Pferde und Menschen. Außerdem war hier noch etwas mehr zu holen, als in den Nachbardörfern.


Die Familie Margert, Wolgagebiet,
1930er Jahre

Die Familie Margert schaffte es nicht rechtzeitig, sich von dieser Verarmung wieder zu erholen, als auch schon die große Dürre des Jahres 1921 und die darauf folgende Hungersnot die Tragödie vollendeten. Etwa ein Drittel der deutschen Bevölkerung des Wolgagebiets starb. Die Familie der Urgroßmutter, die so schon kaum mit dem über die Runden kam, was sie besaß, mußte den Gürtel noch enger schnallen. „Gerettet haben uns der Gemüsegarten, die kleine Hofwirtschaft und das Nähmaschinchen. Für ihre gute Arbeit in der Näherei bekam Mila, die als Siegerin aus einem Wettbewerb hervorgegangen war, als Prämie eine Nähmaschine der Marke Singer. Das Vorhandensein einer Singer-Nähmaschine im Haus zeugte von einem gewissen Wohlstand ihrer Besitzer. Selbst der Ratenkauf eines solchen Objekts für den alltäglichen Gebrauch nebst seiner ganzen Zubehörteilchen erforderte nicht wenige Geldmittel, und unsere Familie hatte sie sogar als Geschenk erhalten. Von nun an nahm Emilia Bestellungen entgegen und half der Familie durch ihre Heim-Näharbeiten. Sie war diejenige, die uns ernährte und durchbrachte“.

Die Maschine wurde zuhause sorgsam gehütet; sie stand in der „roten Ecke“, und es war einzig und allein die Großmama, die damit nähte. Uns, den Kinderchen, ware es noch nicht einmal gestattet, diesem wertvollen Familienstück zu nahe zu kommen“ – erinnert sich Großmutter Irma (Erinnerungen der I.G. Bereschnaja (Makgert)).

Das Jahr 1933 – erneut herrscht an der Wolga eine große Hungersnot, und die Familie muß mit ihrer Wirtschaft wieder einmal ganz von Null anfangen.

Der Kollektivisierung und dem Kampf gegen die Kulaken konnte auch ihre Familie nicht entgehen, obwohl man sie wohl kaum als vermögend bezeichnen konnte. Das ganze häusliche Vieh wurde in die Kolchose getrieben, ungeachtet der Tatsacje, dass es in der Familie zu dem Zeitpunkt zwei kleine Kinder gab. „Aber es gelang den Margerts die Nähmaschine unter einem Misthaufen zu verbergen“ (Erinnerungen der I.G. Bereschnaja (Makgert)). Auf die Enteignung folgte erneut der Hunger, denn man hatte den Dorfbewohnern auch das gesamte Getreide fortgenommen, das sie selber angebaut hatten. „Emilia nähte auf ihrer Maschine viele kleine Säckchen, in die wir jeweils ein paar Handvoll Getreidekörnchen schütteten; anschließend versteckten wir sie auf dem Dachboden unter dem Stroh. Obwohl sie das Dach mit ihren Bajonetten durchstießen, fanden sie die kleinen Säckchen nicht, so dass diese, unsere kleine Spitzfindigkeit der ganzen Familie das Leben rettete“. (Erinnerungen der I.G. Bereschnaja (Makgert)).

Ende der 1930er Jahre hatten sich die Schrecken wieder beruhigt; man hatte wieder ein recht gutes, neues Leben ohne Not begonnen; sie züchteten Vieh, bauten Getreide, Gemüse, verschiedenes Obst und Wassermelonen an.

Ihren Geburtstag, den 23. Juni 1941, hat die Urgroßmutter ihr Leben lang nicht vergessen, denn einen Tag zuvor brach der Krieg aus und aus war es mit dem fröhlichen Feiern.

Der ältere Bruder Iwan wurde unmittelbar nach Kriegsbeginn in die Arbeitsarmee geholt; seine Familie wurde nach Kasachstan verschleppt.


Die Familie von Iwan Genrichowitsch Margert
an der Wolga, 1940

Gemäß Ukas des Präsidiums des Ibersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941 wurde die im Wolgagebiet und anderen Regionen lebende deutsche Bevölkerung der Komplicenschaft mit dem Feind und Begünstigung von Straftaten deutscher Spione beschuldigt und infolgedessen aus den Wolga-Rayons hinter den Ural verbannt. Zum Packen ihrer Sachen gab man ihnen gerade einmal 15-20 Minuten Zeit. Nur das Allernotwendigste durften sie mitnehmen: Lebensmittel und Kleidung in einem Gesamtgewicht von 30-36 kg pro Person. Alles andere (der gesamte Besitz, den sie sich mit soviel Mühe angeschafft hatten, die Vorräte aus der gerade erst eingebrachten reichen Ernte, ihre Arbeitswerkzeuge, das liebe Vieh) mußten sie in ihrem Vaterhaus zurücklassen; dafür erhielten sie auf einem Fetzen Papier eine mit Bleistift geschriebene Quittung, ohne Stempel und Unterschrift. Sie wird heute noch von meiner Familie sorgfältig aufbewahrt. Mit Tränen in den Augen machten sie sich, zusammen mit der Familie des mittleren Bruders, der Schwester, der kranken Mutter und dem einjährigen Sohn auf dem Arm, ihren Bündelchen in der Hand, auf Leiterwagen auf den Weg ins ferne Sibirien.

Sie konnten nur einen kleinen Lebensmittelvorrat, ein paar Fotos und Portraits von ihren Verwandten, ein wenig warme Kleidung sowie – und das war das Allerwichtigste – die Singer-Nähmaschine mitnehmen.

Die Familie war groß, und nur deswegen konnten sie auch die Nähmaschine mitnehmen, denn das erlaubte Gesamtgewicht wurde nicht überschritten. Zum Glück wurde das Pferd von einem bekannten Burschen geführt, der an der Bahnstation arbeitete; er half ihnen die Nähmaschine im Stroh zu verbergen. Bis zur Stadt Engels fuhren alle mit Fuhrwerken; dann wurden sie auf Güterwaggons verladen, sogenannte „Kälber“-Wagen mit verriegelten Fenstern und Türen. Beim Verladen der Nähmaschine in den Waggon kam ihnen erneut ein Zufall zuhilfe: der Diensthabende, der die Verladung überwachte, wurde dringend in die kommandantur abberufen. Diese Zeit reichte aus, um das Maschinchen aufzuladen und unter anderen Sachen zu verstecken.

Es war eine lange Reise – sie dauerte etwa 2-3 Wochen. Die Lebensmittelvorräte waren zuende gegangen; alle hatten Hunger; viele Bekannte starben unterwegs. Großmamas Mutter erkrankte sehr schwer, aber zum Glück kamen sie alle lebend am Ziel ihrer Reise an.


Die Kinder der Familie Margert, 1943

Als Endstation ihrer langen Fahrt erwies sich der kleine Bahnhof von Tarutino im Atschinsker Bezirk. Hier wurden sie von Kommandanten in Empfang genommen und auf die einzelnen Bezirke verteilt. Es war für die Familie Margert ein großes Glück, dass der Zug mitten in der Nacht an der Bahnstation eintraf; beim Abladen herrschte ein derartiges Durcheinander, dass die Behördenvertreter den ganzen Sachen, welche die Menschen mitgebracht hatten, überhaupt keine Aufmerksamkeit schenkten. (Erinnerungen von W.F. Markgerdt; I.G. Bereschnaja (Margert)).

Die Familie Margert geriet in das Dorf Kamenka. Man wies ihnen eine Baracke zu, in der jeweils 14-16 Personen in einem Raum lebten. Die Ortsansässigen verhielten sich den Deutschen gegenüber recht unterschiedlich: manche rannten aus dem Dorf, als ob Verbrecher eingetroffen wären, die man nicht zu den Menschen zählen konnte, andere halfen ihnen in der ersten Zeit mit Lebensmitteln aus. Sie hatten einen schweren Stand, aber vor allem war alles so kränkend und demütigend. Ohne Erlaubnis durfte man sich an keinen anderenOrt entfernen, denn alle waren in der Kommandantur der Stadt Atschinsk registiert. In die Stadt gelangen konnte man allenfalls mit einem Urlaubsschein (Erinnerungen von W.F. Markgerdt; I.G. Bereschnaja (Margert).

Die Ältesten in der Familie mußten arbeiten gehen, damit wir Kleinen wenigstens etwas zu essen bekamen. Sie arbeiteten irgendwo und erledigten alles, was gerade anfiel: als ungelernte Arbeiter oder Knechte; sie hielten Häuser und Wohnungen der Ortsansässigen sauber und bekamen als Lohn ein paar Tischabfälle, Obst- oder Kartoffelschalen. Die zehnjährige Mascha (die jüngste Schwester) arbeitet als Kindermädchen im Haus wohlhabender Leute. Leider kann Urgroßmama sich nicht mehr an die Vor- und Nachnamen dieser Familie erinnern (Erinnerungen von W.F. Markgerdt; I.G. Bereschnaja (Margert)).

Die Versorgung mit Lebensmitteln reichte während des Krieges nicht aus; die Menschen litten häufig großen Hunger. Zu der damaligen Zeit wurden Lebensmittel auf Karten ausgegeben, aber die zugeteilte Rationwar äußerst kümmerlich. Und erneut war es die Nähmaschine, die unser Geschlecht vor dem Untergang rettete.

Emilia begann Kriegsuniformen zu nähen: Militärhemden, wattierte Mäntel und Hosen u.ä., was ihnen die Möglichkeit verschaffte, zusätzlich an Lebensmittel heranzukommen. Nach den Erinnerungen der Verwandten nähte Emilia mitunter Tag und Nacht ohne Unterbrechung, um den eigenen Sohn und die Kinder des Bruers vor dem hungertod zu retten (Erinnerungen von W.F. Markgerdt; I.G. Bereschnaja (Margert).

Ìàðãåðò Â.Ô Im Frühjahr 1943 wurde ihr Sohn drei Jahre alt, und die Urgroßmutter mußte sich von der Familie trennen: sie wurde in die Trudarmee eingezogen. In der Nähe der Stadt Sterlitamak zwang man sie, zusammen mit anderen Frauen, Bäume zu fällen. Und hier geschah das Unglück. Als sie das Holz auf einen Waggon luden, fiel ein riesiger Baumstamm der Urgroßmutter direkt auf das eine Beine – sie wurde schwer verletzt. Sie wurde lang behandelt und verbüßte dann den Rest ihrer Haftzeit als Köchin in er Küche (Erinnerungen von W.F. Makgert).

Als sie nach Hause zurückkehrte, fand sie die Mutter schonnicht mehr lebend vor und erkannte nur mit Mühe ihren Sohn wieder, den sie bei ihrer Schwester Maria zurückgelassen hatte.

Ìàðãåðò Ì.Ã.Der Sohn wuchs heran und wurde zu einem unersetzlichen Helfer. Im Alter von 12 Jahren fuhr er mit den Erwachsenen zusammen in den Wald, um Holz zu schlagen; und zuhause half er ebenfalls. Später arbeitete er mit Pferden auf der Farm. 1950 zog die Familie nach Kljutschi um, und ein Jahr später wurde Bruder Andrej zu 10 Jahren verurteilt – wegen 5 kg Getreide, die er für seine 6 Kinder entwendet hatte, deren Körper vom Hunger schon ganz aufgequollen waren. Nun mußten sie auch seiner Fmilie helfen. 1956 kehrte der Bruder aufgrund einer Amnestie nach Hause zurück; danach wurde das Leben etwas leichter (Erinnerungen von G.F. Donzowa (Margert)).

Hier in Kljutschi traf Milja anscheinend ihre Liebe – einen ansehnlichen, hübschen Burschen, einen Deutschen namens Konrad, der als Buchhalter tätig war. Es kam zur Hochzeit, Tochter Lydia wurde geboren, aber ihr gemeinsamer „Lebensweg wurde durchkreuzt“ von einer litauischen Schönheit, mit der er fortging (Erinnerungen von J.G. Besweselnaja (Margert)).

Ìàðãåðò Ã.Ã. Der Sohn leistete seinen Dienst in der Armee und arbeitete dann als Fahrer in der Sowchose; er heiratete; es kamen Enkelkinder, denen die Urgroßmutter sich widmete.

Das Leben ging weiter, es gab neue Sorgen, aber das alte Gefühl der Kränkung und Erniedrigung wollte nicht von ihr weichen. Sie hatte hauptsächlich Kontakt zu ihren Angehörigen und Freundinnen, die ebenfalls aus Verbanntenkreisen stammten; untereinander sprachen sie Deutsch.

Lange Zeit träumte sie davon, in die Heimat zurückzufahren. Nein, nicht für immer, sondern nur um die Wolga einmal zu besuchen, nach dem Haus zu sehen, wie sie sagte. Aber das war verboten, und als die Erlaubnis schließlich erteilt wurde, da war es zu spät – die Gesundheit ließ eine solche Reise nicht mehr zu (Erinnerungen von A.G. Korch (Margert)).


Familie Margert, 1946

Oma Milja nähte für die große Familie noch lange Zeit alle möglichen Kleidungsstücke. Einige Sachen, die mit dieser Nähmaschine hergestellt wurden, werden heute noch in unseren Familien verwahrt – ein Kleid, das Milja der Tochter zum Institutsabschluß nähte, und ein Teppich mit der deutsprachigen Aufschrift „Danke jeden Morgen für das Brot, die Arbeit und jeden Tag, den du erleben darfst“ (Matthäus-Evangelium). Das ist im wesentlichen die Devise des gesamten vertrieben deutschen Volkes, das so lange Zeit von einem Tag zum anderen gelebt hat, und was morgen war – das wußte niemand (Erinnerungen von W.M. Korch).


Emilia und Maria Margert

Außerdem haben Emilias Kinder (Viktor, Lydia), die Nichten (Irma, Nina, Antonina, Frieda), jeder Enkel und Urenkel (Jan, Monika, Vladimir), die von ihr großgezogen wurden, nähen gelernt, denn sie „wuchsen praktisch auf ihrenKnien auf“ – beim Nähen hatte sie die Kinder immer auf dem Schoß (Erinnerungen von O.J. Korch (Stronskaja)).

Jetzt befindet sich unsere Familien-Reliquie zur Aufbewahrung im Heimatkundemuseum unserer Schule und nimmt dort einen würdigen Platz ind er Aussteelung ein, die den verbannten Wolga-Deutschen gewidmet ist.

Schlußbemerkungen

Im Laufe der vorliegenden Arbeit wurde(n)

• die Geschichte der Herkunft der Nähmaschine sowie ihr Auftauchen auf dem russischen Markt geklärt
• die Umstände erforscht, unter denen die amerikanische Nähmaschine in eine rußland-deutsche Familie gelangte
• populär-wissenschaftliche und spezielle Literatur, Zeugenaussagen und die Erinnerungen von Augenzeugen der Ereignisse analysiert
• der letzte Besitzer der Maschine ermittelt
• ein Porträt des Erfinders der Maschine – Isaak Marrit Singer – erstellt
• ein Chronologie der Ereignisse im Hinblick auf den vorliegenden Gegenstand erarbeitet
• eine Analogie des Schicksals der Familie Margert mit dem des deutschen Volkes (der
Bevölkerung des Wolgagebiets) hergestellt

Aufgrund der Forschungsergebnisse formuliere ich folgende Schlußfolgerungen:

• Der Erfinder unserer Familien-Reliquie (der Nähmaschine) war Isaak Merrit Singer
• Die Heimat der Nähmaschine ist Poldolsk.
• Die Nähmaschine hat unseren Familienmitgliedern dreimal das Leben gerettet
• Das Schicksal der Familie Margert ist analog zu dem der deportierten Wolga-Deutschen

Die Geschichte der Nähmaschine ist gleichzeitig das Schicksal meiner Urgroßmutter; es ähnelt in vielfacher Hinsicht dem Schicksal anderer Menschen ihrer Generation. Es ist das Schicksal aller Wolga-Deutschen. Ihr Leben – das ist die Tragödie eines Menschen, der aufgrund äußerer Umstände nicht den Weg gehen konnte, den er gern gegangen wäre.

Aber das Leben hat die Urgroßmama nicht zerbrochen! Sie hat sich nie über ihr hartes Los beklagt, sich stets voll und ganz ihrenKindern, Enkeln und Urgroßenkeln gewidmet.

Literaturhinwiese

1. Große Russische Enzyklöpädie. – Moskau. Wissenschaftlicher Verlag „Große Russische Enzyklopädie“, 2007, S. 556.
2. Vom Pflug zum Laser. Elektronische interaktive Enzyklopädie – „Das Tor zur Welt der Wissenschaft und Technik“, Dorling Kindersly, 1998.
3. J. Tschertanowa „Auf einer Wiese aus Stoff tanzt das Dünnbeinchen“, Journal „Und warum?“, N° 6, 1994).
4. F.I. Tscherwjakow; N.W. Sumarokow. Nähmaschinen. – Moskau, 1968.

Anhang 1
Erinnerungen von Viktor Friedrichowitsch Margert, geb. 1939

Mama hat oft erzählt, dass sie damals an der Wolga ein großes Fünfwandhaus besaßen; die Mama, alle Kinder und ihre Familien lebtn einträchtig miteinander. Es ging ihnen gut – sie hielten Vieh und bewirtschafteten einen Gemüsegarten.

Mama ging erst spät zur Schule; insgesamt absolvierte sie vier Klassen. Weiter lernte mand amals nicht, aber dafür fand der Unterricht auf Deutsch statt. Nachdem sie die Schule beendet hatte, suchte Mama sich eine Arbeit in der Näherei. Sie hat das Nähen nie gelernt und war trotzdem eine hervorragende Näherin und Handarbeiterin.

1941 wurden wir verschleppt. Nur das Nötigste durften wir mitnehmen: Essen und Kleidung – 36 kg pro Person. Für das Haus erhielten wir eine Quittung, die mit einem Bleistift geschrieben war – ohne Stempel und Unterschrift.

Aber die Nähmaschine nahmen wir auch mit. Diese Maschine blickt auf eine lange Geschichte zurück – Mama hat oft davon erzählt. Unsere Familie war groß, und deswegen konnten wir auch eine Menge an Gewicht mitnehmen, u. a. auch die Nähmaschine. Als ie kamen, um uns zu holen, stellte sich heraus, dass ein uns bekannter Burscher deas Fuhrwerk lenkte; er arbeitete an der kleinen Bahnstation und half uns, die Maschine unter Stroh zu verstecken und damit bis zum Bahnhof zu gelangen. Den ganzen Weg bis in die Stadt überlegten die Erwachsenen, wie sie die Maschine unbemerkt weiter in den Waggon verladen konnten. Aber alles entschied sich wie von selbst: der Wachmann, der das Verladen beaufsichtigen sollte, wurde in die Kommandantur abberufen. In dieser Zeit verluf Onkel Andrej die Nähmaschine und tarnte sie mit anderen Sachen. Später dachten sie, dass man sie ihnen vielleicht am Empfangsort wegnehmen würde, aber wir kamen mitten in der Nacht in Sibirien an und niemandem stand der Sinn danach, seine Aufmerksamkeit auf unsere Nähmaschine zu lenken.

Unsere Familie geriet in das Dorf Kamenka. Wi wurden zu jeweils 14.16 Personen in einem Barackenzimmer untergebracht. Die Ortsansässigen nahmenuns als Faschisten auf, sie hielten uns nicht für Menchen; aber es gab auch andere, die uns in der ersten Zeit mit Lebensmitteln aushalfen.. Wir hatten es sehr schwer; aber am schlimmsten waren die Kränkungen und Erniedrigungen. Ohne Erlaubnis durften wir uns nicht aus dem Dorf entfernen; alle unterstanden der Meldepflicht in der Kommandantur der Stadt Atschinsk. Man konnte nur mit einem Urlaubsschein in die Stadt gelangen.

Tante Maria war zu jener Zeit 10 Jahre alt; sie fand eine Arbeit als Kindermädchen bei wohlhabenden Leuten;und Mama fing an Militäruniformen zu nähen: Militärhemden, wattierte Mäntel und Hosen, u.ä. So kamen wir zusätzlich zu ein paar Lebensmitteln.

1943, als ich 3 Jahre alt war, holten sie Mama in die Trudarmee. Ich blieb bei Tante Maria. Sie selbst war auch erst 12 Jahre alt. Nahe der Stadt Sterlitamak fällte sie zusammen mit anderen Frauen Bäume. Einmal, als sie das Holz auf Waggons verluden, fiel ein großer Stamm Mama aufs Bein; sie wurde schwer verletzt. Sie mußte lange behandelt werde; danach verbüßte sie den Rest ihrer Haftzeit als Köchin in er Küche.

Anhang 2
Erinnerungen vonIrma Genrichowna Bereschnaja (Margert), geb. 1936

In der Heimat lebten wir in einem großen Haus alle einträchtig miteinander: kleine und große Kinder, ihre Familien und die Oma. Im Überfluß lebten wir nicht, aber wir mußten auch keinen Hunger leiden; wir hielten Vieh und bauten unser Gemüse an.

Tante Milja kam erst spät zur Schule – sie war unser Kindermädchen, half im Haushalt. Insgesamt absolvierte sie vier Klassen, länger gingen wir damals nicht zur Schule; aber dafür fand der Unterricht auf Deutsch statt. Als sie mit der Schule fertig war, suchte Milja sich eine Arbeit im Schweinezuchtbetrieb und half so der Familie. Sie konnte wunderbare Handarbeiten machen, nähte und stickte sehr hübsche Dinge.

Der Vater erinnerte sich sofort an die 1920-er Jahre – dies Hungerjahr. Sie blieben nur deswegen am Leben, weil sie ihr eigenes Gemüse zogen. Und außerdem half ihnen Tanta Milins Nähmaschin. Für ihre gute Arbeit in der Näherei erhielt sie anläßlich eines Wettbewerbs eine Pämie – eine Nähmaschine der Marke „Singer“. Sie wurde zuhause wohl gehütet; sie stand in der „roten Ecke“, und es war ausschließlich Tante Milja, die darauf nähte. Wir, die Kinderchen, durften der wertvollen Familien-Reliquie nicht zu nahe kommen.

Während der Kollektivierung nahm die Kolchse uns das gesamte Vieh weg, ungeachtet der Tatsache, dass sich zu dem Zeitpunktin der Familie zwei kleine Kinder befanden. Die älteren Brüder verstanden es noch rechtzeitig, die Nähmaschine unter einem Misthaufen zu verbergen. Und dann kam die Enteignung und der Hunger; sie nahmen das ganze Getreide weg, das wir mit so viel Mühe angebaut hatten. Und was dachte Milja sich da aus? Sie nähte auf ihrer Maschine viele kleine Säckchen, in die jeweils ein paar Handvoll Getreide geschüttet wurden; und danach versteckte sie sie auf Dem Dachboden unter dem Stroh. Da konnten sie mit ihren Bajonetten noch so oft hineinstechen, die kleinen Säckchen fanden sie jedenfalls nicht. So half die kleine Milina durch ihre Spitzfindigkeit das Leben der ganzen Familie zu retten.

Als sie uns verschleppten durften wir nur das Nötigste einpacken: Essen und Kleidung – 30 bis 36 kg pro Person. Alles andere blieb im Vaterhaus zurück, für das wir eine mit Bleistift auf einen Papierfetzen geschriebene Quittung erhielten – ohne Stempel, ohne Unterschrift. Ich weiß noch, wie die kleinen Kinder weinten und brüllten, und Großmama Lisa war schwerkrank. Wir konnten nur einen kleinen Lebensmittelvorat mitnehmen, ein paar Fotos und Portraits von den Verwandten, etwas warme Kleidung und, das Wichtigste – die Nähmaschine der Marke „Singer“. Milja wollte auf gar keinen Fall ohne sie fahren. Wir waren eine große Familie (9 Personen), so dass wir ein verhältnismäßig großes Gesamtgewicht an Sachen mitnehmen konnten. Die Nähmaschine lag noch innerhalb des Erlaubten. Zum Glück holte ein uns bekannter Bursche uns ab, der am Bahnhof arbeitete; er half uns die Maschine unter Stroh verborgen zu halten. Bis nach Engels brachten sie uns auf Fuhrwerken; dann mußten wir in Güterwaggons umsteigen – „Kälberwagen“ mit verriegelten Fenstern und Türen. Und nun? Wie sollten wir die Nähmaschine auf den Zug bekommen? Auch hier half uns ein glücklicher Zufall: der Diensthabende, der die Verladung beaufsichtigen sollte, wurde in die Kommandantur abberufen. Diese Zeit reichte dem Vater, die Nähmaschine aufzuladen und mit anderen Sachen zuzudecken.

Am neuen Wohnort, in Kamenka, winkte der zehnjährigen Tante Mascha das Glück – sie fand eine Arbeit als Kindermädchen bei wohlhabenden Leuten, und Tante Milja begann Militäruniformen zu nähen: Militärhemden, wattierte Mäntel und Hosen u.ä. So konnten sie sich zusätzliche Lebensmittel beschaffen. Manchmal nähte sie Tag und Nacht ohne Unterbrechung, um ihren eigenen Sohn und uns, die Kinder ihres Bruders, vor dem Hungertod zu bewahren.

Anhang 3
Erinnerungen von Frieda Genrichowna Donzowa (Margert), geb. 1941

1950 zog unsere Familie nach Kljutschi um; ein Jahr später wurde der Vater zu zehn Jahren Arbeits- und Erziehungslager verurteilt, weil er 5 kg Getreide aus dem Futtersack eines Pferdes entwendet und nach Hause gebracht hatte, um seinen 6 Kindern, deren Körper vom Hunger ganz aufgetrieben waren, etwas zu essen geben zu können. Tante Mila mußte uns auch helfen. 1956 kehrte der Vater aufgrund einer Amnestie nach hause zurück; das Leben wurde ein wenig leichter.

Anhang 4
Erinnerungen von Jekaterina (Katharina) Genrichowna Besweselnaja (Margert), geb. 1945

Hier in Kljutschi begegnete Tante Milja ihrer großen Liebe – einem bildhübschen Burchen; er war ebenfalls Deutscher und hieß Konrad. Er war als Buchhalter in der Sowchose tätig. Sie heirateten, Tochter Lidotschka wurde geboren. Aber nach ihrer Geburt begann Konrad völlig unerwartet eine Romanze mit einer Litauerin und zog mit ihr fort. Tante Milja machte damals eine schwere Zeit durch.

Anhang 5
Erinnerungen von Antonida Genrichowna Korch (Margert), geb. 1949

Lange Zeit träumte Milja davon in die Heimat zurückzukehren. Nicht für immer, aber sie wollte so gern noch einmal an der Wolga sein, nach dem alten Haus sehen, wie sie sagte. Aber das war verboten, und als das Sichentfernen vom Wohnort schließlich erlaubt war, ließ ihre Gesundheit eine solche Reise schon nicht mehr zu. Eines hat sie zur Erinnerung an die Zeit noch – die Quittung, die man ihnen damals vor der Abfahrt in die Verbannung aushändigte.

Oksana Jurjewna Korch (Stronskaja), geb. 1969

Großmutter Milja habe ich gekannt. Ich habe sie in guter Erinnerung, sie hat immer auf Wolodja aufgepaßt. Er saß oft auf ihren Knien, wenn sie an der Nähmaschine arbeitete. Und mir schneiderte sie ab und an Sachen, bis wir unsere eigene Nähmaschine anschaften.

In der Familie Margert können fast alle nähen – sowohl die Frauen als auch die Männer. Und sie alle haben es auf dieser besagten Singer-Nähmaschine gelernt.

Walerij Michailowitsch Korch, geb. 1968

Auf alle Kinder (Viktor, Lydia), Nichten und Neffen (meine Tanten Irma, Frieda, Anna, Nina, Antonina – meine Mutter), jeden Enkel und Urenkel (Jan, Monika, Vladimir)hat Oma Milja aufgepaßt und ihnen das Nähen beigebracht, denn sie wuchsen alle „praktisch auf ihren Knien auf“, während sie an er Nähmaschine arbeitete.

Anhang 6

Schriftstück über die Konfiszierung des Besitzes der Familie Margert vom 21. September 1941, Dorf Krasnij Jar, Wolgagebiet

* Anmerkung der Übersetzerin:

Das im Anhang 6 vorliegende Dokument trägt den deutlichen Schriftzug des Familiennamens
Markart. Tatsächlich tauchten jedoch im Laufe der Ereignisse, verursacht durch verschiedene Umstände (Schreibfehler, Hörfehler, mangelnde Schreibkenntnisse, Namensverfälschungen bei den NKWD-Behörden), weitere Schreibweisen dieses Nachnamens auf (Margert, Markgerdt, Markert, Makgert).
Im Text wurden die Namen so belassen, wie sie in den heute den einzelnen Familien vorliegenden Dokumenten vermerkt sind.


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