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Das sagen die Kriegskinder

Autoren:
Swetlana Balseris
Diana Maurer
Anastasija Golubewa
Klasse 8 b, Schule N° 5

Touristischer Heimatjunde-Klub „Der Wanderer“
Wissenschaftliche Leitung: N.I. Maurer

Nowoselowo, 2000

Disposition

I. Einleitung
II. Hauptteil
1.Erinnerungen von Kriegskindern
2. Analyse und Bewertung des gesammelten Materials
III. Schlußfolgerungen
IV. Bibliographie

I

Der große Vaterländische Krieg – das ist die Tragödie des gesamten Landes, des gesamten Volkes. Es gibt wohl keine Familie im Lande, die von den Ereignissen jener Jahre nicht in irgendeiner Form betroffen war.

Unseren Vätern und Großvätern verfügten über die Kraft, die Moral und den Mut, die Freiheit und Unabhängigkeit unserer Heimat zu verteidigen. Aber hätten sie denn an den Fronten des Vaterländischen Krieges standhalten können, wenn ihr Hinterland nicht gesichert gewesen wäre? In den Städten und Dörfern, die sich im tiefsten Hinterland befanden, wurde die gesamte arbeitsfähige Bevölkerung herangezogen: alte Leute, Frauen, Kinder. Und es ist sehr wichtig sich die menschlichen Gestalten jener Zeit vorzustellen, Menschen, die zu den handelnden Personen der Geschichte wurden. Ihren Kriegskindern soll auch diese kollektive Arbeit gewidmet sein.

Ihr Ziel – das Sammeln der Erinnerungen von Menschen der älteren Generation, die in den Jahren des Krieges zwischen 6 und 15 Jahre alt waren, das Wiederauflebenlassen interessanter Fakten, die sich in jener Zeit in unserer Region zugetragen haben.

Aufgabe unserer Forschungsarbeit – ein objektives Bild vom Leben unserer Landsleute in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges zu erstellen.

Hauptgegenstand unserer Forschungsarbeit – die Erinnerungen von Kriegskindern.

Der 22. Juni 2001 war der 60. Jahrestag des verräterischen Einfalls faschistischer deutscher Truppen in unser Land. Kriegskinder berichten über Ereignisse jener fernen Jahre.

II

2.1. Erinnerungen von Kriegskindern

Asa Wladimirowna Andrejewa (Mädchenname Jakuschewa), geb. 1931

Meine Tante war mit einem Österreicher verheiratet. Er hieß Adolf Hohenschläger. 1937 erhielt er einige Briefe von seiner Schwester, die ihn in die Heimat zurückrief und ihn auf alle mögliche Weise des „Verrats an den Kommunisten“ bezichtigte. Onkel Adolf antwortete: „In Sibirien habe ich meine Familie, und hier ist auch meine Heimat“. Die NKWD-Organe erfuhren von diesen Briefen. Der Onkel wurde verhaftet und zum „Volksfeind“ erklärt. Durch einen Bekannten bat er darum, meinem Vater von seiner Festnahme Mitteilung zu machen. Das reichte aus. Papa wurde vor den Ermittlungsrichter gerufen und beschuldigt, dass er die Tatsache, einen Volksfeind zum Verwandten zu haben, verheimlicht hatte. Der Vater wurde aus der Partei ausgeschlossen, aus dem Dienst entlassen (er war Abschnittsbevollmächtigter), und auch Mama erhielt vom Standesamt ihre Kündigung. Die Eltern zogen aus dem Daurischen in den Nowoselowsker Bezirk um.

Als ich 10 Jahre alt war, begann der Krieg. Vieles ist aus der Erinnerung bereits entschwunden, aber dies kann ich niemals vergessen. Die Nachricht vom Beginn des Krieges hörten wir im Radio. In Nowoselowo fand eine Versammlung statt.

An einem Augusttag im Jahre 1941 gingen mein Vater - Waldimir Aleksandrowitsch Jakuschew, Onkel Fedor Efimowitsch Samojlow und der Kusin Iwan Wasilewitsch Kuwschinow an die Front. Onkel und Kusin kamen ums Leben. Sie wurden nicht ins Buch der Erinnerungen aufgenommen, und ihre Namen finden sich auch nicht auf der Gedenktafel im Siegespark. Wahrscheinlich hat das Kriegskommissariat ihre Dokumente nicht aufbewahrt ...

Während des Krieges ging ich zur Grundschule. Ich weiß noch, wie wir Sachen gesammelt haben, um Pakete zu packen und an die Front zu schicken. Wir legten Zettelchen hinein, auf denen wir den Wunsch äußerten, der Feind möge geschlagen werden.

1944 erhielten wir einen Brief aus dem Taschkenter Hospital, von einem Soldaten namens Iwan Golowanow. Er dankte Mama für die warmen Mäntelchen: „Wenn wir ihre Mäntelchen nicht gehabt hätten, hätte ich beide Beine verloren. Aber eine Hand ist erfroren, sie haben sie amputiert“.

Ich weiß noch, wie sie den Sieg verkündeten. Während des gesamten Krieges bekamen wir vom Vater nicht einen einzigen Brief. Aber im Mai 1945 schrieb er: „Lena, mit dem ersten Zugtransport komme ich nach Hause. Wartet auf mich“.

Aber Vater kam weder mit dem ersten, noch mit dem zweiten Transport.

Im August wurde Mama schwerkrank. Der Nowoselowsker Arzt schickte sie nach Krasnojarsk, aber der Kapitän des Dampfers hatte Angst sie mitzunehmen, und so brachten sie Mama wieder nach Hause. Sie lag 12 Tage, am dreizehnten starb sie. Es gab nichts, woraus man einen Sarg hätte anfertigen können. Der Mann von Mamas Schwester nahm dafür schließlich ein paar dünne Bretter vom Dach.

Im September 1945 kehrte der Vater aus dem Krieg zurück; sie hatten ihn nach dem Sieg noch für mehrere Monate in Estland interniert.

Leo Friedrichowitsch Bengardt (Benhardt?), geb. 1935

Wir lebten an der Wolga. Vor dem Krieg diente mein Vater als Offizier in der Roten Armee. Nach dem Stalin-Ukas geriet er in die Trudarmee. Und dann verschwand er spurlos. Bis heute ist uns über den Verlauf seines Schicksal nichts bekannt.

Zu Beginn des Krieges begaben sich viele junge deutsche Männer ins Kriegskommissaiat und baten darum, sie an die Front zu schicken. Sie wußten nicht, dass Stalin „ihnen mißtraute“. Einmal kamen Soldaten ins Dorf. Alle Bewohner wurden auf Lastwagen getrieben und zum Ufer der Wolga gebracht. Als wäre es eben erst gewesen, sehe ich Mama, Papa, Oma und Opa vor mir. Unser kleiner Hund rannte dem Lastwagen noch hinterher. Er rannte die ganze Straße hinauf, dann sank er winselnd zu Boden.

Mehrere Wochen verbrachten wir an der Anlegestelle. Dann schickten sie uns auf Lastkähnen ans andere Ufer der Wolga. Und weiter in Viehwaggons gen Osten. Die Waggons waren vollgestopft mit Menschen, es war heiß und stickig. Die alten Leute starben. Uns, die Kinder, zerrten sie in die Öffnungen und Aussparungen im Fußboden, damit wir frische Luft schöpfen konnten.

Wir kamen in Koma an. Etwas hat sich ins Gedächtnis eingeprägt: wir betreten das Ufer, und vor uns steht eine weiße Kirche. Unsere Familie wurde bei er Bäuerin Akulina untergebracht. Ihren Mann und ihre beiden Söhne hatten sie an die Front geholt. Kaum hatte sie eine Todesbenachrichtigung erhalten (und ihre Männer sind alle an der Front gefallen), da ging sie auch schon mit der Axt auf uns los.

Im Januar 1942 holten sie den Vater in die Trudarmee, und bereits am 17. August erhielten wir die Nachricht: „Tod durch Erschöpfung“.

Mama weint, wir weinen. Akulina schaute und schaute, ging schließlich zur Mutter. Die beiden umarmten sich und fingen beide laut an zu heulen. Kummer und Leid haben sie wohl miteinander verbunden.

Wir standen unter Kommandantur. Nicht einmal ins Nachbardorf durften wir uns ohne ausdrückliche Genehmigung begeben. Sprechen durften wir nur Russisch. Sogar zuhause hatten wir Angst, unsere Muttersprache zu benutzen. Es ist schrecklich, sich daran zu erinnern, was für ein Leben wir führten. Nicht einmal die heruntergefallenen Ähren durften wir vom Feld aufsammeln. Wenn du etwas aufnahmst, kam sogleich der Brigadier und trieb dich mit der Peitsche ins Kontor: „Rück die Ähren heraus!“ Wir durften uns auch keinen Holzpflock ohne spezielle schriftliche Erlaubnis beschaffen, und kaufen durften wir überhaupt nichts. Einmal war ich losgefahren, um solche Holzpflöcke zu besorgen, belud den Schlitten. Völlig durchgefroren machte ich mich auf den Heimweg. Unterwegs begegnete mir der Abschnittsbevollmächtigte, und ich mußte meinen Schlitten in seinem Hof abladen. Ich weiß nicht, wie sehr ich weinte, erinnere mich noch an den unsäglichen Schmerz und die Kränkung.

Alle möglichen Leute sind mir in meinem Leben begegnet. Aber ich glaube, die Zahl der guten Menschen war größer. Und in unserem Bezirk lebten damals sowohl Juden, als auch Letten, Esten , Polen .....

Von meinem Stiefvater erlernte ich das Schusterhandwerk. Es hilft mir auch heute mein Leben zu meistern.

Maria Michailowna Posdeewa (Mädchenname Sabsarina)

Ich erinnere mich, wie ich anstatt zum Tanzen zur Arbeit geriet. Ich war gerade im Klub angekommen. Die Musik spielte noch nicht; ein Anderthalbtoner näherte sich. Sie riefen alle jungen Burschen und Mädel zusammen, luden sie auf den LKW und fuhren sie aufs Feld. Zwei Tage mußten wir dort arbeiten und auch übernachten. Anders durfte man nicht. Wenn sie sagten: „Das mußt du“, dann mußte man eben.

Jelena Nikolejewna Leniwzewa, geb. 1928

1943 beendete ich die 6. Klasse und ging zum Arbeiten aufs Postamt. Gegen 6 Uhr morgens rannte ich zur Arbeit, verspäten durfte man sich nicht, nicht mal um eine Minute – so lautete das zu Kriegszeiten geltende Recht.

Bruder Sergej holten sie mit 17 Jahren an die Front. Am 20. Juli 1944 schrieb er: „Bei mir ist alles in Ordnung. Ich war verwundet, bin wieder genesen. Man hat mir den Rang eines Sergeanten verliehen. Morgen ziehe ich in den Kampf...“. Und am 21. Juli ist er in diesem Kampf gefallen. Sein Kommandeur, Gardehauptmann Rudenko, wird später Sergejs letzten Brief überbringen, ein Familienfoto, das er in jenem Gefecht bei sich trug.

Etwas später benachrichtigten uns die Fährtensuch-Pioniere über den Begräbnisort des Bruders in der Region Wolhynien, sie schicken ein Erinnerungsfoto von einem Massengrab. Diesen Brief aus der Kindheit habe ich bis heute aufbewahrt.

2.2. Analyse und Bewertung des gesammelten Materials

Wie man aus den weiter oben angeführten Erinnerungen ersehen kann, war die Lage, in der sich die Bevölkerung unseres Bezirks am Vorabend, und besonders auch während des Großen Vaterländischen Krieges befand, eine sehr schwierige. Viele Bewohner des Bezirks waren von Repressionen betroffen, die am Vorabend des Großen Vaterländischen Krieges durch das ganze Land rollten. Aber man muß anmerken, dass diese Zwangsmaßnahmen unsere Landsleute weder verrohen ließen noch sie in Erbitterung versetzten.

In den Jahren des Krieges wurde unser Bezirk, wie auch andere Bezirke der Region Krasnojarsk, zu einem Ort, an dem sich Sondersiedler niederließen; wie man anhand der Erinnerungen sieht, vollzog sich dieser Prozeß unter harten, man kann sogar sagen grausamen, Bedingungen. Und auch später befanden sich die Sonderumsiedler, im Vergleich zu den einheimischen Bewohnern des Bezirks, an ihrem neuen Wohnort in viel schlimmeren Verhältnissen.

III

Die Wahl des Themas „Das sagen die Kriegskinder“ ist keine zufällige gewesen. Der Krieg hinterläßt tiefe Wunden in den Seelen, den Herzen der Erwachsenen und besonders der Kinder. Die Erinnerungen unserer Großmütter und Großväter an die harte, rauhe Kriegszeit sind noch frisch, nur wenige Generationen sind ohne Kriegsgeschehen aufgewachsen. Wir wollen nicht, dass künftig in der Geschichte erneut derartige Fehler gemacht werden, wir brauchen keinen Krieg. Krieg bedeutet Tod. Krieg bedeutet das Leiden des Volkes. In unserer Arbeit haben wir uns um äußerste Objektivität bemüht, haben keine ständigen Verleumdungen und Anschwärzungen historischer Tatsachen zugelassen, aber auch keine Lobeshymnen und Schönfärbereien. Wir haben versucht, die bittere Wahrheit über das Leben der Nowoselowsker in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges zu berichten.


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