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L.O. Petri, V.T. Petri . Wahre Begebenheiten aus dem Tajmyr-Gebiet

Die Familie Gess

Also, unser Leben auf der Expedition begann mit meiner Erkundung der Insel Krestowskij (schreibt G.O. Kononowitsch). Nachdem ich die Landenge passiert hatte, welche die nördliche Erhebung der Insel von der südlichen trennt, begab ich mich auf den Hügel und sah, wie aus der kleinen Holzhütte, die früher einsam und von allen verlassen am Ufer gestanden hatte, ein Mann heraustrat und, nachdem er mich bemerkt hatte, sogleich wieder darin verschwand. Wer mochte das sein? War die Insel nicht seit undenklichen Zeiten völlig unbewohnt? Waren das etwa Deutsche? Gut möglich, den Panow hatte gesehen, wie sie in der Lemberow-Bucht Fußball gespielt hatten, und ihr U-Boot lag nicht weit davon entfernt. Fortlaufen? Sich verstecken und erst einmal alles gut beobachten? Nein, es ist wie es ist – ich werde hingehen, dann weiß ich mehr. Ja, es waren tatsächlich Deutsche. Aber keine Soldaten. Es stellte sich heraus, dass man die Familie Gess hier zwangsangesiedelt hatte, nachdem sie aus dem Wolgagebiet verschleppt worden war. Gess selbst war ein Mann von etwas über sechzig Jahren, seine Frau ein wenig jünger; und dann waren da noch die 18-jährige Tochter Irma und der 12-jährige Sohn August. Sie freuten sich über meine Ankunft. Gess war Böttcher; er fertigte hölzerne Fässer für Weißwalfett an. Während des Winters konnte ich mich in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft davon überzeugen, wie viel praktischer veranlagt, fleißiger und vorausschauender die Menschen dieser Nation sind – im Vergleich zu uns. Die Holzhütte, die schon vor hundert Jahren zusammengebaut worden war, vernachlässigt und schon fast verfallen, hatten sie in ein prächtiges Häuschen verwandelt. Fußboden und Decke waren verkleidet, sie hatten einen großen, russischen Ofen aufgestellt, neue Fensterrahmen und Türen eingebaut. Außerdem hatten sie wunderbare Möbel angefertigt. Nebenan hatte der alte Mann einen Schuppen mit Werkstatt errichtet. Vom Haus führte ein Tunnel dorthin, damit man ihn auch bei Schneesturm aufsuchen konnte. Und all das war mit Brettern gemacht, welche sie selbst aus Baumstämmen zurechtgesägt hatten, die am Ufer herumlagen. Frau Gess hatte ihr Spinnrad mitgebracht. Alt war es, und es besaß ein großes Rad. – Sagen Sie, wozu brauchen Sie dieses Spinnrad? – Ach, wissen Sie, es wäre einfach schade gewesen es zurückzulassen. Es stammt noch von meiner Urgroßmutter, aus der Zeit Katharinas der Großen. So etwas kann man doch nicht im Stich lassen? Wir haben uns angefreundet, kamen überein, dass die Frauen alle zehn Tage zu uns kommen und für alle die Wäsche waschen sollen: die staatliche gegen Geld, die eigene Unterwäsche gegen Zahlung mit Lebensmitteln. Nachdem die Gewerbetreibenden (d.h. die Sondersiedler, Red.) erfahren hatten, dass es in der Familie Gess ein Spinnrad gab, brachten sie ihnen Hundewolle. Die alte Frau konnte nicht nur spinnen, sondern auch hervorragend stricken. Jetzt ging niemand mehr vorbei. Stets führte irgendein neuer Pfad zu ihrem Haus. Fleisch, Fett, geschlachtete Gänse und Fisch tauchten auf. Und all das war der Lohn für die Pullover, Socken und Schals, welche die Hausherrin angefertigt hatte. Es tauchten auch Bräutigame auf, die von der sympathischen jungen Deutschen Irma gehört hatten. Ich gab ihnen Karbid, und sie weißten dann Decke und Wände. Es wurde sehr schön“.

Gegen Abend kehrte ich zurück. Die Jungs errichten Gestelle und legen den Boden unter den zukünftigen Zelten mit Brettern aus. Währenddessen bereitet der Koch über dem Lagerfeuer das Essen zu. Man fühlt, dass alle begeistert sind und gern arbeiten. Möge Gott verhindern, dass sich jener „Lager“-Geist mit der Unterdrückung von Zwangsarbeitern und Sklaven hier breitmacht. Dann wird ihnen schnell alles „schnurzegal“ sein. Wie kann man verhindern, dass dieser Fall eintritt? Wie kann man den Schlüssel zu ihren Herzen finden? Doch nicht mit Losungen und Appellen!? Ich glaube das Wichtigste ist, dass es zwischen uns und den Häftlingen keinen Unterschied und keine vorgetäuschte Strenge gibt. Und es muß auch jeder sehen und empfinden, dass er zu etwas nütze ist. Man darf die Leute nicht überlasten und überanstrengen, wenn dazu gar keine Notwendigkeit besteht, aber man darf ihnen auch keine Gelegenheit geben untätig herumzusitzen. Na schön, ich denke, alles wird so sein, wie es sein sollte!“.

So also begann G.O. Kononowitsch seine Arbeit zur Rettung seines Schiffs und schuf eine freundschaftliche und kameradschaftliche Arbeitsatmosphäre im Expeditionskollektiv. Besondere Aufmerksamkeit widmete der bekannte, erfahrene Expeditionsleiter der „andersblütigen“ Familie Gess. Man kann ihm nur dafür danken, dass er die Tätigkeiten dieser deutschen Familie, die zweimal an den „Rand der Welt“ verschleppt wurde und selbst unter den höllischen Bedingungen nicht ihre vorherige, normale, menschliche Haltung verlor, in so gerechter Weise bewertet hat. Das war im Jahre 1942.

Als ich bereits in Hamburg mit den biographischen Materialien über G.O. Kononowitsch arbeitete, wandte ich mich auf Empfehlung seiner Ehefrau Margarita Aleksandrowna auch einem Werk von A.P. Tschechow zu, in dem er seine Reise zur Insel Sachalin beschreibt, wo der Großvater des Kapitäns lebte. Die Reise (21. April 1890, Moskau – 10. Juni 1890, Insel Sachalin) steht im Zusammenhang mit Tschechows Ende der 1880er immer stärker werdendem Gefühl der Unzufriedenheit mit seinem Werk, dem Wunsch, die Vorstellungen von seiner Heimat zu verbreiten und der Gier nach einer persönlichen Heldentat als Staatsbürger. Tschechow war mit der Ausreise zufrieden: „Die Fahrt war beschwerlich, von Zeit zu Zeit unerträglich und sogar qualvoll.... Ich danke Gott, dass er mir die Kraft und die Möglichkeit gab, mich zu dieser Reise aufzumachen (5. Juni 1890). Tschechow reiste von Moskau nach Jaroslawl – mit der Eisenbahn; von Jaroslawl mit dem Schiff über Wolga und Kam bis nach Perm; von Perm bis Tjumen – mit der Eisenbahn (mit Aufenthalt in Jekaterinburg); von Tjumen bis zum Bajkalsee mit Pferden (mit Aufenthalt in Tjumen, Krasnojarsk und Irkutsk); mit dem Schiff über den Bajkal, und dann noch einmal mit Pferden bis nach Sretensk; von Sretensk mit dem Schiff über den Amur bis nach Nikolajewsk und über die Tatarische Meerenge nach Nord-Sachalin. Allein zu Pferde legte er mehr als 4000 Werst zurück. Mich interessierte, wie der Schriftsteller die Aktivitäten von G.O. Kononowitschs Großvater, Wladimir Osipowitsch Kononowitsch, beurteilte, der offenbar in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts Herr über Sachalin war. Im Besitze des Generalstitels war es zu zahlreichen geschäftlichen Begegnungen, auch auf feierlichen Anlässen, mit A.P. Tschechow gekommen, bei denen er den hervorragenden Eindruck eines kultivierten und gebildeten Mannes hinterließ, der aufgrund seiner wohlwollenden Haltung gegenüber Verbannten, Siedlern und Strafgefangenen großen Respekt seitens der Menschen genoß. Er zeichnete sich dadurch aus, dass er als Inhaber eines hohen Postens auf der Dienstleiter und als Vertreter einer liberalen Politik, nicht zu einem dieser „grausamen zaristischen Beamten“ wurde. Später wurde er General-Gouverneur im Priamur-Gebiet. A.P. Tschechows Worten zufolge sind die hohen Eigenschaften im Leben, im Beruf und auf kulturellem Gebiet der Familie Kononowitsch damit zu erklären, dass sie über alte, verdienstvolle Adelswurzeln verfügt. Die ganze vornehme Erziehung spiegelt sich im Charakter und dem Verhalten von Kapitän G.O. Kononowitsch wider, dem ich begegnen und mit dem ich arbeiten durfte (1947).

N.M. Prschewalskij (1839-1888), der durch seine Forschungsreisen durch Zentral-Asien bekannt wurde, bat, als er im Sterben lag, darum, dass man ihn am Ufer des Issyk-Kul-Sees begraben möge. Er beging seine allerletzte Heldentat, indem er sein Grab der Wüste übergab.

G.O. Kononowitsch (1919-1995), der bekannte Kapitän auf großer Fahrt der Murmansker Seeschifffahrtsgesellschaft, legte testamentarisch fest, dass seine Urne mit der Asche der stürmischen Norwegischen See im Gebiet der Lofoten-Inseln übergeben werden sollte. Was verbindet diese beiden Menschen, die in verschiedenen Jahrhunderten lebten, miteinander? Sie sind durch eine höhere sittlich-moralische Kraft miteinander vereint! Selbst nachdem sie bereits verstorben waren, wollten sie für immer und ewig ihrer Sache weiterdienen. G.O. Kononowitsch befand sich in moralischer Hinsicht ganz oben unter den großartigen Menschen seines Landes. Kapitän Kononowitsch vollbrachte seine letzte Heldentat, indem er sein Grab dem Weltmeer überließ.


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