Nachrichten
Unsere Seite
FAQ
Opferliste
Verbannung
Dokumente
Unsere Arbeit
Suche
English  Русский

L.O. Petri, V.T. Petri . Wahre Begebenheiten aus dem Tajmyr-Gebiet

Zeugenaussage der Lydia Grekowa (Salfeld, geb. 1923).

Ich, Lydia Alexandrowna Salfeld wurde in der Ortschaft Schilling, Bezirk Krasnokut, Gebiet Saratow geboren. Am 5. September 1941 wurde unsere Familie in die Region Krasnojarsk ausgesiedelt – in den Abaner Bezirk, Ortschaft Aban, die sich in 60 km Entfernung von der Stadt Kansk befand. Unsere Familie, Vater und Mutter, die Brüder David (geb. 1920) und Fjodor (geb. 1925) sowie ich arbeiteten danach in der Abaner Waldwirtschaft.

Anfang Juni 1942 holten sie uns in eine Arbeitskolonne des NKWD. Auf dem Weg über Kansk, Krasnojarsk und den Schiffsanleger Jenisej trafen wir schließlich Anfang Juli 1942 auf dem Leichter N° 2 in der Siedlung Woronzowo ein. Dort mußten wir mehrere Tage am kahlen Ufer zubringen; danach verlud man uns erneut und brachte uns in die Siedlung Orlowka. Es waren sehr viele, die damals dort hingebracht wurden: Deutsche, Letten und Finnen. In Orlowka existierte lediglich eine einzige Baracke, 8 x 10 m groß, ohne Fenster und Türen – eine richtige Bruchbude – und ein kleiner, verqualmter Baderaum ohne Abzug. Von Orlowka bis Woronzowo sind es 60 km. Bevor wir hierher verschickt wurden, hat man uns auf dem Leichter N° 4 noch Lebensmittel für einen Monat zugeteilt.

Einen Monat später fuhren mein Bruder Fjodor Salfeld, Robert Kerber, Jakob und Fjodor Schraiber sowie Otto Nein mit einer Schaluppe nach Woronzowo, um dort Nahrungsmittel zu besorgen. Eine Woche danach kamen sie mit den Lebensmitteln zurück. Während der gesamten Zeit suchte uns Revierleiter Bogatkin nicht ein einziges Mal auf, und niemand von uns war darüber beunruhigt. Wir fischten mit einem 250-m-Schleppnetz, aber es gab nur sehr wenig Fisch. So lebten wir dort bis September 1942, und am 15. September traf dann Bogatkin mit einem Kutter ein und bestimmte unsere Familie, Nein, Merk, Termer, Herzog und die Familie Muss für die Versendung nach Sopkarga, um dort ein Haus mit zwei Wohnungen aus Balken zusammenzubauen. Zwölf bis vierzehn Stunden arbeiteten wir dort täglich, um das Haus so schnell wie möglich fertigzustellen und anschließend 20 Menschen darin unterbringen zu können. Wir bekamen folgende Lebensmittel ausgehändigt: 800 Gramm Brot, 800 Gramm Zucker, 700 Gramm Butter, aber Geld erhielten wir einstweilen nicht. Deswegen verkauften wir Zucker und Butter an die Letten und Juden, damit wir uns für da erhaltene Geld Brot beschaffen konnten.

In einer solchen Lage lebten wir dort bis April 1943, als man uns nach Lajda brachte, wo wir im Sommer mit Schleppnetzen fischten und im Winter zum Eisfischen übergingen, bei dem die Netze unter dem Eis aufgestellt werden. Salz war im vergangenen Sommer nicht termingemäß in der Fischfabrik angeliefert worden. Deswegen gingen die Mädchen im Winter 1944 zur Fischannahmestelle und sammelten das Salz von den bereits verarbeiteten, gleich neben der fischverarbeitenden Abteilung liegenden Fischen - mitsamt den daran haftenden Schuppen. Das ergab ungefähr 2 kg. Ganz offensichtlich „verkaufte“ uns einer der dortigen Arbeiter. Für mich, Ida Nein, Amilie Merk und Tante Ada Fink wurden „Dokumente“ ausgestellt, anhand derer jeder von uns sechs Monate später für das Salz, welches wir benutzt hatten, zu 3 Jahren verurteilt wurde. Ende September 1944 schickten sie uns nach Karaul, von dort zufuß weiter bis Kasanzewo, Ust-Port, Dudinka und sogar noch weiter – bis zum Bahnhof in Norilsk, wo ich dann in der Kokserei arbeitete. Ein Jahr später (1945) wurde eine Amnestie verkündet,und wir wurden alle freigelassen, obwohl sie uns nicht nach Lajda zurückkehren ließen. Und so habe ich für nichts und wieder nichts ein ganzes Jahr abgesessen.

Anschließend verlegten sie uns zur Eisenbahnstation Oktjabrskaja, wo wir Grubenloren auf Waggons verladen mußten, und im Winter stellten wir Holzgitter auf, die vor Schneeverwehungen schützen sollten. Dort lernte ich meinen zukünftigen Mann, Michail Grekow, kennen, der praktisch mein Landsmann war: er kam aus derselben Stadt wie ich – aus Chwalynska im Gebiet Saratow. 1946 wurde unser Sohn Sascha geboren. Mein Mann war ein guter Verkäufer. Das Leben an der Bahnstation Oktjabrskaja verlief unter normal guten Bedingungen. 1947 kamen meine Eltern aus Lajda zu uns, und wir fingen an, Vorbereitungen für unsere Abreise auf das „Festland“ zu treffen. Nachdem wir unsere Sachen gepackt hatten, fuhren wir zur Beresowsker Sowchose im Abaner Bezirk, Region Krasnojarsk, aber auf dem Weg nach Krasnojarsk verließ mein Mann uns, und wir fuhren ohne ihn nach Beresowka. Später stellte sich herau, dass er aus mir unbekannten Gründen in seine Heimat Saratow zurückgekehrt war.

In Beresowka führtn wir ein sehr schlechtes Leben; gut lebte dort nur meine älteste Schwester; sie holte uns zu sich; in ihrer kleinen Wirtschaft besaß sie zwei Kühe. Bei der Schwester lebten wir so lange, bis wir unser eigenes großes Haus gebaut hatten. Ich arbeitete als Viehwärterin und wohnte mit meinem Vater zusammen. Acht Monate später kam plötzlich mein Mann aus Saratow zu mir zurück, nachdem er alles Geld verbraucht hatte, das ich ihm auf sein Bitten hin ausgehändigt hatte. In seinem Brief schrieb er lediglich: „Das Geld ist alee, ich komme zu dir zurück“. Mit Mühe hatte ich damals dasGeld zusammengespart. Mein Mann kam wieder, fand eine Arbeit als Chauffeur, und wir bauten schnell ein großes Haus, in dem wir danach bis 1967 wohnten. Bis dahin hatten wir bereits 6 Kinder: 4 Söhne und 2 Töchter. 1967 zogen wir in das Gebiet Saratow um, in die Ortschaft Schiweriwka (25 km von Saratow entfernt), wo mein Mann in der Sowchose erneut eine Arbeit als Fahrer fand, während ich eine Stelle im Kindergarten bekam. Dort lebten wir bis zum Jahr 2000. Mein Mann starb 1997, und ich blieb mit den Kindern allein zurück.

2000 zogen wir nach Deutschland um; dort lebe ich nun in Bad Bauheim. Hier wohnen auch meine beiden Töchter und drei Söhne; vorher war Sohn Nikolaj gestorben; er liegt auf dem Friedhof unserer Stadt begraben. Einer meiner Söhne blieb in Schiwerewka bei Saratow, und ich lebe hier allein in einem Seniorenhaus und erhalte eine kleine Rente, aber zum Leben reicht es. Ich und meine Kinder sind froh, dass wir in Deutschland leben. Meine Eltern sind in Sibirien gestorben, und Bruder David Salfeld lebt in der Ortschaft Schilling, im Bezirk Krasnokut, Gebiet Saratow. Ich war zu Besuch bei meinem kranken Landsmann Fjodor Jegorowitsch Schraiber; wir stammen aus ein- und derselben Straße. Jetzt ist er ein sehr kranker Mann, und ich versuche ihm nach Kräften zu helfen, aber ich bin auch nicht mehr jung – schließlich vollende ich am 7. März 2006 mein 83. Lebensjahr.

Vielleicht reagiert einer meiner Bekannten und Freunde auf diese meine Zeugenaussage – ich würde mich freuen und danke dafür allen im voraus recht herzlich. Mein Adresse lautet: Lydia Grekov, Lindenstr. 8, Bad Nauheim. Lieber Leo Petri; ich freue mich für Sie, dass Sie sich uns Deutsche aus dem Hohen Norden so zu Herzen nehmen; ich wünsche Ihnen beste Gesundheit und viel Erfolg im Leben. Hochachtungsvoll Lydia Grekova.

 


Inhaltsverzeichnis

Zum Seitenanfang