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L.O. Petri, V.T. Petri . Wahre Begebenheiten aus dem Tajmyr-Gebiet

Zeugenaussage der Ina Seibert (geb. 1930), Deutsche; sie erwies sich als die einzige Medizinerin, die in der Lage war, vom Stand der Medizin in den 1940er Jahren im Tajmyr-Gebiet Aussagen zu treffen.

Ich, Ida Friedrichowna Seibert, wurde, ebenso wie alle anderen Deutschen, 1941 nach Sibirien, in die Region Krasnojarsk, Minusinsker Bezirk, Ortschaft Gorodok, ausgesiedelt. Unsere Familie bestand aus 5 Personen: mein Bruder mit seiner Frau, zwei Kinder und dazu noch ich, denn mein Vater hatte mich in die Obhut meines Bruders gegeben, damit ich in Engels zur Schule gehen konnte, wo mein Bruder damals wohnte. Aus diesem Grunde verlor ich nach der Umsiedlung den Kontakt mit meinem Vater, denn er lebte damals bereits in Glarus, Kanton Unterwalden, und seine Umsiedlung fand etwas später statt. Bis nach Krasnojarsk mußten wir in Güterwaggons fahren, anschließend stiegen wir auf einen Kutter um, der uns nach Gorodok brachte. Die Einheimischen waren zu unserer Begrüßung ans Ufer gekommen – offenbar hatten sie die Ankunft von Teufeln mit Hörnern und Schwänzen erwartet ... Zum Glück schickte man uns nicht zum Fischfang, denn mein Bruder war Fachmann für landwirtschaftliche Maschinen. Sie holten ihn sogleich zum Arbeiten in die Maschinen- und Traktoren-Station, wo er bis zu seinem Tode beschäftigt war.

Aber wie war es um mein Schicksal bestellt? Ich war immer ein überflüssiger Mensch in der Familie gewesen – es herrschten schwere Zeiten, Hunger, Kälte ... Wenn es ums Arbeiten ging – dann bitteschön, aber am Tisch war ich einer zuviel. Zudem wurde in der Familie meines Bruders jedes Jahr ein neues Kind geboren. 1941 war ich 11 Jahre alt – selber noch ein Kind. Ich habe viel durchgemacht, sogar Lungentuberkulose, an der ich gut zwei Jahre litt. Aufgrund meiner Erkrankung konnte ich auch erst mit erheblicher Verspätung die medizinische Fachschule beenden. Nach dem Abschluß schickte mich das regionale Gesundheitsamt als Krankenschwester ins Tajmyr-Gebiet, nach Dudinka. Wir schrieben das Jahr 1951, und ich war 21 Jahre alt.

Ich möchte meine Erinnerungen sehr gern „dem Gedenken an einen wunderbaren Arzt, Kandidat der medizinischen Wissenschaften und Dozenten – Reinhold Petrowitsch Albrecht – widmen“.

Er traf 1954 ebenfalls auf Bestimmung der regionalen Gesundheitsbehörde nach Beendigung des Krasnojarsker Instituts für Medizin im Fachbereich Chirurgie im Tajmyr-Gebiet ein. Zu der Zeit arbeitete ich als Krankenschwester. Nachdem er Leiter der chirurgischen Abteilung geworden war, bekam ich sehr schnell die Stelle der Narkoseschwester und wurde einige Zeit später OP-Schwester. Und so arbeiteten wir, Hand in Hand, beinahe 20 Jahre lang zusammen. Mit Reinhold Petrowitsch war die Arbeiten angenehm und leicht, es kam nie vor, dass er sich ärgerte oder aufregte, wenngleich er zu der damaligen Zeit wohl nur die primitivsten Apparaturen der Medizin und Anästhesie zur Verfügung hatte. Aber das bereitete ihm keinen Verdruß; er war wagemutig, strebte vorwärts, führte zahlreiche Neuerungen ein. So retteten wir auch unsere deutschen Fischer, die unverdient verurteilt und zu Gefangenen geworden waren, ebenso wie all jene Menschen, die medizinischer Hilfe bedurften.

1965 beschloß R.P. Albrecht seine wissenschaftlichen Forschungen zu vervollkommnen und seine Dissertation zu schreiben. Das waren wohl die allerschwersten Jahre seines beruflichen Werdegangs – es gab nun für ihn keine einzuige freie Minute mehr. Tagsüber – die Arbeit im Krankenhaus, in der übrigen Zeit – Bereitschafts- oder Notdienst (wenn Patienten als akute Notfälle eingeliefert wurden, mußte R.P. Albrecht sofort operieren). Sehr wenig Zeit blieb ihm zum Schlafen und die Arbeit an seiner Doktorarbeit. In diesem Rhythmus arbeitete er 5 Jahre lang. Natürlich hatte er auch seine Assistenten, wie beispielsweise die Oberschwester des Krankenhauses – W.M. Pachomowa, die R.P. Albrecht moralisch die notwendige Unterstützung gab; ich selbst erledigte für ihn alle Schreibmaschinentätigkeiten. Die Verbandsschwester, A. Buchno (ehemalige Gefangene) betreute die Versuchskaninchen für experimentelle Forschungszwecke. 1966 beendete R.P. Albrecht seine Dissertation und verteidigte sie im Oktober desselben Jahres mit Erfolg. 1967 verließ er die Stadt Dudinka und zog mit seiner Familie nach Duschanbe (Tadschikistan) um. Dort begann er halbtags am medizinischen Institut zu arbeiten, ebenso als Leiter der chirurgischen Abteilung der Klinik N° 2 in der Notaufnahme. In Duschanbe arbeitete R.P. Albrecht bis 1983; am 20. August starb er zuhause an einem Herzinfarkt. Dort wurde er auch begraben. Ich reiste 1966 nach Duschanbe ab. W.M. Pachomowa verließ Dudinka 1966, und über das weitere Schicksal von A. Buchno ist mir nichts bekannt.

Ganz besonders möchte ich die klinischen Fähigkeiten R.P. Albrechts hervorheben. Er war Klinikarzt mit Leib und Seele. Wenn beispielswiese ein Patient ankam, dann untersuchte er ihn und stellte seine vorläufige Diagnose. Anschließend, wenn er ihn dann eingehender untersucht hatte, fand sich seine Anfangsdiagnose immer bestätigt; er besaß einfach verblüffende Fähigkeiten. Auf ihn zählten und mit ihm berieten sich die Ärzte der Krankenhäuser in Krasnojarsk und Norilsk. R.P. Albrecht war Chirurg für Allgemeinchirurgie, aber er operierte in glanzvoller Weise alles, sogar am Herzen (ich kann mich nicht mehr daran erinnern, in welchem Jahr er einen Fremdkörper, einen Stachel, aus dem Herzmuskel eines Fischers entfernte). Er operierte langsam, aber sicher und zuverlässig, er scheute keine Mühe, und es ging bei ihm stets ohne viel Blutvergießen zu. In puncto Diagnostik konnte man ihn mit niemand anderem vergleichen – und das mit den damals zur Verfügung stehenden primitiven Apparaturen und dem ständigen Mangel an Medikamenten. Während ich als Operationsschwester tätig war, operierten und pflegten wir die Kranken und den schwierigsten Bedingungen: es gab kaum Blutkonserven, Blutplasma. Um das Leben der Patienten überhaupt retten zu können, spendeten die Mediziner selbst, einschließlich des Leiters der Abteilung – R.W. Albrecht, ihr Blut (direkte Bluttransfusion vom Spender zum Patienten). Das ist die kurze Charakterisik dieses bemerkenswerten Menschen. Mit R.P. Albrecht arbeitete ich insgesamt 10 Jahre zusammen.

R.P. Albrechts Familie reiste 1992 nach Deutschland aus, wo seine Ehefrau Maria Karlowna Gross verstarb. Zurück blieben die Kinder: Walerij – ebenfalls Arzt, und Tochter Nina, die mit ihrer Familie in der Ukraine blieben; sie ist – Kinderärztin ...


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