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Robert Maier. Die Russland-Deutschen: Bahn des Schicksals

Der 28. August 1941 – ein tragisches Datum im Schicksal der Wolgadeutschen! An diesem Tag verabschiedete das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR den Ukas über ihre Massen-Umsiedlung nach Sibirien und Kasachstan. Das Volk, das bereits von Katharina II zur Urbarmachung der Wolga-Steppen und zum Schutz der östlichen Territorien des Imperiums vor den Überfällen der Nomaden angeworben worden war und die salzhaltigen Steppen in blühende Gärten verwandelt und die gesamte Wolga-Region – zu einem der wichtigsten Getreidespeicher des Landes gemacht hatte, so dass es die Sowjetmacht in den schweren Zeiten des Bürgerkriegs und des wirtschaftlichen Ruins unterstützten konnte, das in seiner Republik die ersten Kommunen gründete, wurde nun als potentieller Feind des Landes offenbart und verlor alles, was es durch beharrliche Arbeit im Laufe mehrerer Generationen geschaffen hatte.

Ich werde kein Urteil über die Notwendigkeit dieses Schrittes abgeben. Es herrschte Krieg, die deutschen faschistischen Armeen eilten in Richtung Wolga, und es konnte nicht ausgeschlossen werden, dass sie auch diesmal zum Landungsplatz laufen würden. Etwas anderes bestürzt mich – der implausible, diffamatorische Charakter der im Ukas angeführten Motive für die Umsiedlung. Wo, so fragt man sich, konnten sich jene zehntausende von Saboteuren und Spionen verstecken, die, wie es in dem Dekret heißt, bereit gewesen wären, auf ein von Deutschland gegebenes Signal Sprengungen in den von Wolgadeutschen bewohnten Bezirken durchzuführen. Schließlich waren doch alle Männer und die meisten Frauen, die keine kleinen Kinder hatten, in die Arbeitsarmee mobilisiert worden. In den deutschen wie den russischen Dörfern waren vorwiegend allte Leute und Kinder zurückgeblieben. Außerdem stand die gesamte Bevölkerung unter der unablässigen Kontrolle der Staatssicherheitsorgane.

Der Ukas war geheim, hauptsächlich für seine Vollstrecker bestimmt. Die Auszusiedelnden selbst erfuhren davon in den meisten Fällen lediglich durch Weitersagen, wobei sie vom Räumungsverfahren vollkommen überrascht wurden. Ausgesiedelte wurden nur Deutsche – ausnahmslos alle – vom gerade erst geborenen Säugling bis zum an Altersschwäche verstorbenen Greis. Eine Ausnahme gab es nur bei Familien, deren Familienoberhaupt ein Russe war. Zum Packen hatten sie 24 Stunden Zeit. Pro Umsiedler durften sie an persönlichem Besitz nicht mehr als 50 kg mitnehmen. Wohin man sie bringen wollte und wie lange sie unterwegs sein würden – darüber erhielten sie keine Auskunft.

Die verzweifelten, entmutigten Menschen, die nicht verstanden, was da vor sich ging und was sie tun sollten, hetzten in ihren Häusern und Höfen umher, packten Sachen ein und Dinge, die sie für nutzlos hielten, wieder aus, schlachteten Gänse, Enten, Hühner, weil sie begriffen, dass sie deren Fleisch schon nicht mehr verkaufen und auch nicht mitnehmen konnten. Viele besaßen kein oder fast kein Bargeld, und bei Nachbarn oder den nächsten Verwandten etwas zu borgen war jetzt nicht möglich.

Sie verschickten die Deutschen wie Gefangene, in Güterzügen und unter scharfer Bewachung. Sie fuhren langsam, standen oft und lange auf Abstellgleisen, weil sie Militärzüge passieren lassen mussten. Bei ihrer Ankunft wurden die Umsiedler in kleinen Gruppen auf umliegende Dörfer verteilt. Was da für Deutsche «vorwärtsgetrieben» wurden, wusste niemand, aber die Kinder riefen: «Sie haben Faschisten hergebracht, Faschisten!»

Die wohlgeordneten, gepflegten deutschen Ortschaften und Dörfer an der Wolga leerten sich. In den Ställen muhten die nicht gemolkenen Kühe, blökten die ohne Futter zurückgebliebenen Schafe und in der Nacht heulten die Hunde vor lauter Sehnsucht nach ihren Herren. Einige Tage später strömten Unmengen Flüchtlinge aus dem Westen in diese Orte. Sie benötigten etwas zu essen und Brennholz für die Öfen. So holten sie die Gärten ab, schlachteten das Vieh, schleppten das Mobiliar fort, die Felder wurden vom Unkraut überwuchert. Die Republik der Wolgadeutschen hatte aufgehört zu existieren.

Der Staat beschränkte sich nicht auf die Vertreibung der Deutschen und die Zerstörung der Republik als administrative und wirtschaftliche Einheit. Am 19. Mai 1942 erging ein zusätzlicher Ukas, der die Umbenennung der Bezirke und Ortschaften der Republik, die Vernichtung aller dort in den Bibliotheken vorhandenen deutschen Bücher, Zeitungen, Zeitschriften, Karten und Alben verlangte. Die Vergangenheit wurde aus dem Gedächtnis der Menschen ausgelöscht.

Das weitere Schicksal der Umsiedler, insbesondere derer, die ins Mündungsgebiet des Jenisseis und andere in den Norden fließende sibirische Flüsse gebracht wurden, verlief sehr schwierig. Die an den öden, oft menschenleeren Ufern ausgesetzten Umsiedler, vorwiegend Frauen, Kinder und alte Leute, waren gezwungen sich Erd-Hütten zu bauen, Brennholz zu beschaffen, gegen Hunger und Kälte zu kämpfen. Außerdem musste das Volk, das sich traditionsgemäß mit Ackerbau beschäftigte, sich nun Fähigkeiten für das Fangen von Fischen aneignen. Ohne geeignete Kleidung und Schuhwerk, auf Hungerration gesetzt, ohne medizinische Hilfe kamen viele von ihnen ums Leben, vor allem alte Menschen und Kinder.

8 Jahre später musste ein lieber und mir sehr nahestehender Mensch diesen Kreuzesweg wiederholen – meine Ehefrau. Nachdem sie gemeinsam mit mir ihre Lagerstrafe verbüßt hatte und drei Jahre vor mir freigelassen worden war, wurde sie zur Ansiedlung in eben dieses Mündungsgebiet des Jenisseis geschickt. Für sie war diese Fahrt besonders beschwerlich, weil sie sich im letzten Monat der Schwangerschaft befand. Zuerst die übelriechende Schwüle im Güterwaggon, in dem noch der Geruch des zuvor transportierten Viehs hing, dann der Lastkahn, der Frachtraum, die Enge, aber wenigstens war es dort nicht so stickig. Nach Turuchansk brachte man sie in den Zwanzigertagen des Augusts. Dort wurden die Ankömmlinge von den Vorsitzenden der Fischfang-Kolchosen «untersucht», wie seinerzeit die Sklaven, allerdings überprüfte man ihre Zähne nicht und befühlte auch nicht ihre Muskeln. Niemand wollte sie nehmen, und es keimte die Hoffnung auf, dass man sie in Turuchansk lassen würden, wo es zumindest ein Geburtshaus gab. Doch man brachte sie nach Seliwnicha – eine Siedlung (oder, wie man im Norden sagt, ein «Stanok») zwei Kilometer weiter den Jenissei flussabwärts. Erd-Hütten, ein paar windschiefe Holzhütten, ein Kontor. Zum Arbeiten schickte man sie in eine Gärtner-Brigade zum Ausjäten von Mohrrüben. Bei einem ortansässigen Fischer kam sie unter. Seine Ehefrau – eine Deutsche, gehörte zu denen, die 1942 am Ufer des Jenisseis ausgesetzt worden waren. In der Familie gab es drei kleine Kinder mit den für die nördlichen Völker charakteristischen Gesichtszügen. Von der Mutter hatten sie nur die hellblauen Augen mitbekommen. Sie hielten sich den ganzen Tag am Jenissei auf, begrüßten die Boote mit dem Fischfang und aßen die in ihren Händen noch zappelnden Fische.

Man wies ihr einen Platz in einem kleinen Korridor zu, welcher die Erd-Hütte, in der eine Familie hauste, von der Außenwelt abteilte und in dem sich das Ungeziefer nur so tummelte. Nachts verbarg sich die Wirtin mit ihren Kindern unter einem Baldachin, und im Eingangsbereich stellten sie eine Räucher-Vorrichtung auf, dass sie von dem Qualm fast erstickte. Morgens jagte der Brigadier, der unzufrieden damit war, dass man ihm eine schwangere Frau untergeschoben hatte, sie zur Arbeit, wo sie durch die Beete kroch und Möhren aus der Erde zog.

Am Ende der zweiten Woche beschloss sie in einem Anfall von Verzweiflung ihrem Leben ein Ende zu setzen. Kurz vor dem Ende des Arbeitstages begab sie sich ans Ufer des Jenisseis. Sie setzte sich auf ein umgedrehtes Boot. An ihren Füßen plätscherte das bleischwere Wasser des Jenisseis. Hinter ihrem Rücken trockneten die auf Stangen ausgebreiteten Fischernetze. Und keine Menschenseele… Nur die Möwen sausten mit lautem Geschrei dahin und irgendwo in der Ferne winselten Hunde.

Sie wusste, dass hier das Ufer steil ins Wasser hinabführte. Ein einziger Schritt – und das war’s! Die vollständige Befreiung von all diesem Grauen! Schon lange war sie zu so einem Schritt bereit gewesen. Nur ein Gedanke störte sie dabei: hat sie das Recht, ihm das Leben zu nehmen? Sie dachte nach, und dann besann sie sich: «Ich habe es schon lange nicht mehr wahrgenommen! Es hatte doch sonst immer so kräftig «getobt», besonders wenn sie nervös gewesen war. Aber heute! Erschrocken lauschte sie! Eine Minute, eine weitere. Keine Lebenszeichen. Sie bewegte sich in Erwartung der gewohnten Gegenbewegung. Aber sie kam nicht. Schreckliche Angst ergriff sie. Wie konnte sie derartige Gedanken zulassen. Und was war, wenn Gott sie bestrafen wollte und ihr das Kind nahm?! Sie sprang auf und rannte wie eine Wahnsinnig in die Siedlung zu den Menschen. Und in dem Augenblick rührte es sich!

Eine unglaubliche Schwäche erfasste sie, ihre Beine knickten ein und sie ließ sich schwankend, keinen Halt findend, am sandigen Ufer zu Boden fallen. Hier fand sie dann auch die Wirtin, die durch das lange Fernbleiben der Wohnungsnehmerin besorgt gewesen war. Sie führte sie nach Hause, gab ihr Tee zu trinken und deckte sie mit ihrer Decke zu. Im Morgengrauen setzten die Wehen ein. Die Hauswirtin brachte sie zum Ufer, setzte sie in ein Boot, ergriff das Schlepptau und zog die Gebärende nach Treidler-Art bis nach Turuchansk.

Ich traf drei Jahre später bei Frau und Sohn ein, wo man mir meinen Wohnsitz zugewiesen hatte, und teilte auf diese Weise das Schicksal meines Volkes.

In den ersten Jahren der Verbannung hofften viele Umsiedler aus tiefstem Herzen, dass sie nach Kriegsende die Erlaubnis bekämen, an die Wolga zurückzukehren. Âîëãó. Doch diese Hoffnungen sollten nicht in Erfüllung gehen. Mehr noch, im Sommer 1948 wurde ein Ukas verabschiedet, nach dem die Umsiedler für immer an die ihnen e Territorien gebunden wurden. Für eigenmächtiges Verlassen des Reservats drohte der Erlass mit zwanzig Jahren Haft.

Den Wind der Veränderungen fühlten die Siedler erst mit dem Einsetzen von Chruschtschows «Tauwetter-Periode», und das auch nicht sofort. Als Erstes wurden die Kriminellen freigelassen und erst im Dezember 1955 erschien das Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR «Über die Abschaffung der Beschränkungen in der Rechtslage der Deutschen und ihrer in Sonderansiedlung befindlichen Familienmitglieder». Aus dem Dekret folgte, dass die Abschaffung der Meldepflicht und die Entlassung aus der administrativen Aufsicht der Organe des Innenministeriums allein aus Gründen der Zweckmäßigkeit erfolgte. Von einer Rehabilitation des Volkes war keinerlei Rede. Mehr noch, in Punkt 2 des Dekrets wurde den Sondersiedlern signalisiert, dass die Abschaffung der Einschränkungen nicht die Rückgabe ihres Besitzes nach sich ziehen würde, den man von ihnen bei der Aussiedlung konfisziert hatte, und dass sie nicht das Recht besäßen, an die Orte zurückzukehren, aus denen sie 1941 ausgesiedelt worden waren.
Diesr Erlass wurde, ebenso wie die Dekrete von 1941 und 1948, verabschiedet, ohne jemals in der Presse veröffentlicht zu werden. Offensichtlich war die Regierung der Ansicht, dass die Sowjetbürger nicht erfahren sollten, dass in der UdSSR zahlreiche Völker aus nationalen Gründen Repressalien ausgesetzt wurden. Denn dies widersprach der offiziellen Politik des Landes und der allgemeinen Menschenrechtserklärung, die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen proklamiert worden war und der sich die Sowjetunion 1948 angeschlossen hatte, von Grund auf.

Dass die gegen die im Wolgagebiet lebenden Personen deutscher Nationalität vorgebrachten Anschuldigungen unbegründet gewesen waren, gab das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR erst 1964 in einem speziellen Dekret vom 28.08.1964 zu.

Seit der Zeit sind viele Jahre vergangen. Das Land wurde durch politische Ereignisse von beispielloser Macht erschüttert. Die Ideologie, die es zusammengehalten und anscheinend für ein ganzes Jahrhundert entworfen hatte, wurde zerstört, der politische Aufbau veränderte sich. Die Wirtschaft ohne Unternehmergeist zerfiel. Das große Imperium selbst begann zu zerfallen.
Unter diesen Bedingungen, unter dem vollständigen Vorhang der Verschwiegenheit, setzte die Massen-Rückkehr der unter Stalin verfolgten Tschetschenen, Inguschen, Karatschaier, Balkaren, Kalmücken, Kurden, Krim-Tataren in ihre historische Heimat ein. Nachdem sie rehabilitiert worden waren, verließen sie die Orte, in die sie auf immer ausgesiedelt worden waren, und machten sich auf in ihre alte Heimat. Was trugen sie in ihren Herzen und wie viele Generationen braucht es noch, damit sich der Schmerz über das, was sie durchgemacht haben, endlich legt?!

Die Sowjetdeutschen gerieten erneut in eine besondere Situation: es ist ihnen nie gelungen, ihren vorherigen Status wiederherzustellen und in ihre Heimatorte zurückzukehren – ins Wolgagebiet. Selbst B. N. Jelzin, den die Masseninfor-mationsmittel eifrig als großen Demokraten darstellten, erwiderte, nachdem ihn eine der Zeitungen über die Möglichkeit einer Wiederherstellung der Republik befragt hatte, ironisch lächelnd, dass man ihnen wohl ein ehemaliges Versuchsgelände in Kapustinij Jar an der unteren Wolga zuweisen könnte – sie könnten es ja von den Minenresten, Geschossen, Ölrückständen und Dieselkraftstoffen reinigen und so bewohnbar machen…

Nach dem schmerzlichen Zerfall der Union wurden die Deutschen in den souveränen mittelasiatischen Republiken unter Bedingungen gestellt, die sie zwangen, diese Länder zu verlassen. Nachdem sie ihre Häuser und ihren Besitz für nichts verkauft hatten, strebten sie gen Westen. Nach und nach beteiligten sich hunderttausende Deutsche an diesem Prozess.

Doch wie schade! Russland zieht daraus kaum einen Gewinn. Unter den Bedingungen eines ständigen demografischen Rückgangs verliert es nicht nur hunderttausende fleißige und verantwortliche Arbeiter, sondern auch ein Volk, das sich sowohl die russische Sprache als auch die großartige russische Kultur zu eigen gemacht hat.

Und man muss nicht denken, dass È íå íàäî äóìàòü, dass die ausgereisten Deutschen sich nur von materiellen Überlegungen leiten lassen. Eine große, wenn nicht sogar entscheidende, Rolle spielen die unheilbaren Wunden, welche die kurzsichtige nationale Politik des Staates ihnen zugefügt hat.

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