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Wladimir Schischkin. Die sowjetische Strafpolitik in Sibirien zu Beginn der 1920er Jahre

Mein Vortrag birgt einen konkreten historischen Charakter in sich und ist angesichts der Formulierung des Themas als ganz persönliches Anliegen zu verstehen. In der Tat handelt es sich bei dem Territorium, das ich hier eingehend betrachten möchte, nicht um Gesamt-Rußland, sondern vielmehr um eine einzige, wenn auch große Region. Der chronologische Rahmen meines Referats umfaßt den Beginn der 1920er Jahre. Das ist eine scheinbar für das Verständnis der sowjetischen Strafpolitik weniger günstige Periode, als der „Rote Terror“, als die Tschekisten, im vollen Sinne dieses Wortes, Greueltaten verübten, oder der Große Terror“, als die Repressionsmaschinerie mit voller Kraft arbeitete. Mehr noch, so scheint es, waren die frühen 1920er Jahre eine Zeit, die bekannt war für die Liberalisierung des kommunistischen Regimes in Bezug auf den Übergang vom militärischen Kommunismus zur Neuen Ökonomischen Politik.

Nichtsdestoweniger können wir trotz des eingegrenzten territorialen und chronologischen Rahmens auf schwerwiegende Probleme stoßen. Auf schwerwiegende Probleme des sowjetischen Totalitarismus. Da der sowjetische Totalitarismus nicht nur ideologische, sondern auch theoretische Quellen hat (vor allem den Marxismus und den russischen Bolschewismus), besitzt er eine Genesis, ein gewisses Entwicklungsstadium.

Der sowjetische Totalitarismus wäre gar nicht möglich gewesen, wenn man damals nicht einen entsprechenden Staatsapparat geschaffen hätte, und dieser entsteht natürlich nicht von nun auf jetzt. Und wir müssen begreifen und uns bewußt werden, dass der Totalitarismus auch nicht möglich gewesen wäre, wenn dieser Staatsapparat nicht soziale Stützen in ganz bestimmten Schichten der Gesellschaft besessen hätte. Wir müssen verstehen, dass die Metastasen des sowjetischen Totalitarismus in den jeweils verschiedenen Entwicklungsstadien die unterschiedlichen Bevölkerungsschichten in unterschiedlichem Maße vernichteten. Gerade deswegen sollten wir neben der theoretischen auch eine konkret-historische Analyse dieses Phänomens durchführen. Aufgrund dieser Gegebenheiten ist letzendlich auch mein Vortrag entstanden.

Ende 1919 – Anfang 1920 war Sibirien von der Koltschak-Armee und den Interventen befreit. Jedoch führte die Wiederherstellung der Sowjetmacht in dieser Region nicht zum Ende des Bürgerkriegs. Hier wurden die militärischen Handlungen noch etwa drei Jahre lang fortgesetzt, nahmen aber, im Vergleich zu den Jahren 1918-1919, andere Formen an. An die Stelle der Operationen, welche die Truppen der sich bekämpfenden regulären Weißen und Roten Armee führten, trat nun der Kampf der „roten“ Truppen und irregulären kommunistischen Formierungen gegen die Bewegung der Partisanen und Aufständischen.

Außerdem hörte der politische Kampf in Sibirien nicht auf. Seine lange Dauer wurde durch drei wesentliche Umstände hervorgerufen: erstens, das Vorhandensein einzelner Bevölkerungsgruppen in Sibirien, die anfangs dahingehend orientiert waren, den Kampf gegen das kommunistische Regimen fortzusetzen; zweitens, die Verfolgung der Sibirjaken, die früher am Kampf gegen die Revolutionsbewegung und die Sowjetmacht teilgenommen hatten, durch die Kommunisten; drittens, die damals gegenwärtige Politik der Bolschewiken in der Region, welche Unmut und aktiven Widerstand seitens eines Großteils der Bewohner Sibiriens hervorrief.

Für den Kampf gegen die realen, potentiellen und imaginären Gegner verwendeten die Kommunisten ein breites Arsenal politischer und militärischer Maßnahmen, von denen die Strafpolitik den wichtigsten Rang von allen innehat. Diese Politik wurde von niemandem, nirgends und niemals öffentlich in ihrem ganzen Ausmaß formuliert. Man kann sagen, dass sie sich im uns bekannten Sinne in elementarer Weise innerhalb der einzelnen Normativakte und Maßnahmen gestaltete. Ein Teil dieser Normativ-Dokumente und Maßnahmen waren die zuvor in Sowjet-Rußland auf sibirischem Boden gesammelten Erfahrungen, andere stellten eine lokale Widerspiegelung bolschewistischer Entscheidungsmethoden laufender, gesamtrussischer Aufgabenstellungen dar, wiederum andere waren eine situative Reaktion auf einen konkreten Umstand, wie er sich in der Region Sibirien herausgebildet hatte. Nichtsdestoweniger gestattet eine Analyse der gesamten Aktionen, die von den kommunistischen Behörden in Sibirien durchgesetzt wurden, die Enthüllung der wesentlichen Inhalte, besonderen Merkmale und Ergebnisse der Realisierung der sowjetischen Strafpolitik Anfang der 1920er Jahre.

Mir scheint, dass gerade zu Beginn der 1920er Jahre auf sibirischem Territorium ein außergewöhnlich mächtiger Strafapparat geschaffen wurde. Vielleicht sogar noch mächtiger, als irgendwo in einer anderen Region (ich beharre auf diesem Standpunkt nicht, denn es gibt aufgrund des Fehlens von Forschungsbelegen aus anderen Regionen keine Vergleichsmöglichkeiten). Aufgrund von Beweisen kann ich sagen, dass gewöhnlich drei Gruppen traditioneller Straforgane existierten: die Organe der Allrussischen Tscheka, die Tribunale und die Organe der Miliz. In Sibirien wurde zur Lenkung all dieser Organe eine besondere Bevollmächtigtenvertretung der Allrussischen Tscheka in Sibirien geschaffen. Eine derartige Vertretung wurde auch im Ural eingesetzt.

Die vorhandenen Quellen lassen den Schluß zu, dass die kommunistische Leitung Sowjet-Rußlands von Anfang an Sibirien zu den Regionen hinzurechnete, in denen die strenge Strafpolitik und weitgehende Repressionsmaßnahmen realisiert werden sollten.Die Rechtmäßigkeit einer derartigen Schlußfolgerung bezeugen in erster Linie die Strukturen und das Netzwerk der in Sibirien organisierten Straforgane, allen voran die Tscheka und die Gerichte.

Im Januar 1920 wurde zur Leitung durch die örtlichen Sonderkommissionen im Kampf gegen die Konterrevolution eine Bevollmächtigtenvertretung der Allrussischen Tscheka von Moskau nach Omsk entsendet; der Mann an ihrer Spitze war der erste stellvertretende Chef der Sonderabteilung der Allrussischen Tscheka – I.O. Pawlunowskij. In vielen Landkreis-Städten wurden Provinz-Schekas geschaffen, während diese widerwärtigen Einrichtungen noch in der ersten Hälfte des Jahres 1919 in Zentral-Rußland zum Politbüro der Miliz umgewandelt wurden; zudem besaßen die Provinz-Tschekas (zum Beispiel die in Petropawlowsk) einen ganzen Stamm von Mitarbeitern, der mit dem der Gouvernementstschekas vergleichbar war.

Hier wurden Sonder-Straforgane eingerichtet, die noch 1919 abgeschafft worden waren. Ich meine die Kreis-Tschekas. Dabei handelte es sich um die widerlichsten „Sondermitarbeiter“, weil sie am wenigsten kontrollierbar waren, auch nicht von der kommunistischen Partei; und sie waren es, die die schlimmsten Gräueltaten und gemeinsten Methoden gegenüber der Bevölkerung zuließen. Und sogar aus den Reihen der kommunistischen Partei wurden 1918 Proteste gegen die Existenz dieser Organe laut. Gerade dort gab es die meisten Lumpen, die meisten grenzfälligen Verbrecherelemente, die ganz besonders grausam wüteten. So waren sie also Anfang 1919 auf dem Territorium des europäischen Rußlands verboten, aber in Sibirien wurden in allen Landkreisstädten Kreis-Tschekas geschaffen. Mehr noch, einige dieser Kreis-Tschekas verfügten über einen Mitarbeiterbestand aus den Gouvernements-Tschekas, das heißt sie verfügten über einen außergewöhnlich weiträumigen Apparat. Die Landkreis-Tschekas bestanden in der Regel laut Personalplan aus 9-10 Mann, während die Gouvernements-Tschekas 120-130 Mitarbeiter umfaßten. Die Umorganisierung der Landkreis-Tschekas zum Politbüro begann in Sibirien erst Mitte der 1920er Jahre. An allen großen Eisenbahnstationen und Wasser-Anlegestellen existierten Bezirks-Transport-Tschekas oder ihre Abteilungen, und an den kleinen – entsprechend kleinere Tscheka-Punkte oder Bevollmächtigte der Bezirksabteilungen der Transport-Sonderkommissionen.

Neben den zivilen Revolutionstribunalen wurde in Sibirien ein breites Netz von Militärgerichten ins Leben gerufen. Sie existierten in allen Divisionen der 5. Sowjet-Armee, in den Truppenteilen der inneren Bewachung und des Innendienstes, in den Verteidigungstruppen der Eisenbahnverwaltung, die überall auf dem Territorium der Region verteilt waren. Zur Lenkung Sibiriens durch die Militärgerichte wurde am 9. November 1920 das Militärische Revolutionsgericht des Sibirischen Revolutionskomitees geschaffen, welches die Rechte eines Front-Tribunals zugesprochen bekam und unmittelbar dem Militärischen Revolutionstribunal der Republik unterstellt war. Außerdem wurde am 20. April 1920 zur Überprüfung von Verbrechen, die für die Sowjetmacht eine besondere Bedrohung darstellten, beim Sibirischen Revolutionskomitee ein Außerordentliches Revolutionstribunal eingerichtet. Eine der ersten Aktionen, die von diesem Tribunal realisiert wurde, war ein gewaltiger Prozeß, der erste, wie ich meine, politische Prozeß in Sowjet-Rußland:der Prozeß gegen die ehemaligen Koltschak-Minister. Er fand im Mai – Juni 1920 in Omsk statt. Die gesamte Presse Sibiriens schrieb über einen Zeitraum von zwei Wochen nur über dieses eine Thema, genauso wie die moskauer Zeitungen „Iswestija“ und „Prawda“. Und dieser Prozeß spielte eine ungeheuer große Rolle, hatte überaus großen Einfluß auf die Stimmung der Bevölkerung, die Formierung des gesellschaftlichen Bewußtseins, weil der Prozeß nicht nur gegen die russische Konterrevolution insgesamt beabsichtigt und durchgesetzt worden war, sondern auch als Prozeß gegen die Verräter nationaler Interesen. Die Vorstellung von der sibirischen Konterrevolution, von Koltschak, von Menschen, die mit ihm gemeinsame Sache machten, indem sie gegen die Sowjetmächte kämpften, bildete sich jahrzehntelang unter dem Eindruck dieses politischen Prozesses heraus.

Im Sommer – Herbst 1921 wurde zur Leitung des gesamten sibirischen Revolutionstribunal-Netzwerks eine sibirische Sonderabteilung des Obersten Gerichts der RSFSR organisiert. Dank dieses sehr streng zentralisierten Netzes von Straforganen, die unmittelbar Moskau oder dem Sibirischen Revolutionskomitee unterstanden, wurde eine zuverlässige Kontrolle über ihre Funktionsfähigkeiten und ihre Effektivität erreicht.

Ein anderes Mittel der Organisierung einer zuverlässigen Kontrolle über die Aktivitäten der Straforgane in Sibirien, das die von ihnen einzuhaltende Durchsetzung der scharfen politischen Richtlinien garantierte, war das Prinzip der Kaderauswahl. Praktisch alle wichtigen Leiter der örtlichen Organe der Allrussischen Tscheka und militärischen Revolutionstribunale wurden gemäß Verfügung Moskaus zum Arbeiten nach Sibirien geholt oder waren aus den Reihen der Roten Armee abkommandiert worden. Es waren Leute, die während der Epoche des „Roten Terrors“ in den Apparat hineingeraten waren und in der Regel die Schule der Bezirks-„Sondermitarbeiter“ durchlaufen hatten. Leuten, deren Hände
vom Blut zahlloser anderer Menschen rotgefärbt waren, - erbarmungslose Menschen, die kein Mitleid kannten; und auch das findet seine Bestätigung. Es genügt, die Namen von S.G. Uralow, P.W. Gusakow, W.J. Oparin, J.J. Mekke (Omsk), I.I. Karklin und Ch.P. Schtscherbak (Barnaul), W.P. Braude, A.W. Preziks und .S. Pupko (Nowo-Nikolajewsk), M.D. Berman, B.A. Bak, K.F. Lewitin und A.W. Schischkow (Tomsk), M.P. Below, W.I. Wildgrube und R.K. Lepsis (krasnojarsk), W.M. Aleksejew, G.N. Jewstratow, A.P. Marzinkowskij und N.I. Tatarinzew (Irkutsk) zu nennen. Die Mehrheit von ihnen hatte ihre Karriere in der Zeit des „Roten Terrors“ gemacht und sich als zuverlässige Wegbereiter der kommunistischen Politik bewährt. Nach und nach bezogen die Straforgane (und sie waren sehr aktiv) die sibirische Bevölkerung mit ein, wleche die Sowjetmacht befürwortete. Erreicht wurde dies mit Hilfe einer Reihe von Aktionen und vor allen Dingen dadurch, dass das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei, das Zentralkomitee der Kreis-Ausschüsse der Kommunistischen Partei (Bolschewiken) Richtlinien dafür aufstellte, dass jeder Kommunist auch ein Tschekist war. Genau diese Richtlinie spielte eine enorme Rolle dabei, dass der Strafapparat eine bemerkenswerte soziale Unterstützung in Sibirien fand. Die Richtlinie wurde in Sibirien äußerst streng durchgesetzt. Ich fand einige Dokumente darüber, dass Kommunisten sich weigerten, mit der Tscheka zusammenzuarbeiten - es gab solche Fälle; und für diese Weigerung wurden die Kommunisten hart bestraft. Es war die strenge Politik der Parteileitung, mit der schließlich erreicht wurde, dass die Kommunisten aktiv mit der Tscheka zusammenarbeiteten. Eine weitere Aktion, mit deren Hilfe der Tscheka-Apparat machtvolle Unterstützung erhielt, war im wesentlichen auch die Neu-Unterstellung der Miliz unter die Tscheka. Alle Mitarbeiter der sowjetischen Arbeiter- und Bauern-Miliz wachten nicht nur über Rechtbund Ordnung in der Gesellschaft, sondern befaßten sich auch mit dem Kampf gegen die Klassenfeinde.

Schließlich muß man noch die außerordentlich schnelle Schaffung eines dichten Informationsnetzes in Sibirien anmerken. Die Eilfertigkeit ihrer Formierung war daran gebunden, dass nicht nur planmäßige, geheime Mitarbeiter der Tscheka-Organe die Funktion der Informanten innehatten. sondern auch eine riesige Anzahl nicht zum eigentlichen Personalbestand gehörender geheimer Mitarbeiter, unter denen sich zahlreiche Milizpersonen, Mitglieder der Kreis-Ausschüsse der Kommunistischen Partei (Bolschewiken) und ausgewählte sowjetische Mitarbeiter befanden. Demzufolge gab es Anfang 1921 in praktisch sämtlichen staatlichen Einrichtungen und Betrieben, in allen Ortschaften, in denen Dorfräte vorhanden waren, in allen Exekutivkomitees der Amtsbezirke und in den kommunistischen Zellen „freiwillige“ geheime Mitarbeiter. Fast in jedem Dorf in Sibirien fanden sich zwei Informanten. Zwei aus dem Grunde, dass die Informationen gegenseitig kontrollierbar waren.

Somit waren praktisch zwei Aufgaben gleichzeitig gelöst: erstens, es kamen operative Informationen herein, und zweitens, es wurden Menschen in diesen Apparat hineingezogen. Sie waren beschmutzt, in etwas verwickelt. Eine große Anzahl Menschen war bereits in den Jahren 1920 – 1921 in die Organe der Tscheka eingebunden. Und ich denke, dass dies in vielerlei Hinsicht auch das folgende Verhaltensmuster dieser Leute erklärt.

Die Tschekisten stellten die Strafpolitik, die riesigen Archive Sibiriens, allen voran die weißgardistischen und die Koltschak-Archive in den Dienst ihrer Sache. Und da stoßen wir auf etwas Interessantes: formell haben nicht die Kommunisten Koltschaks Macht beseitigt, sondern die Menschewiken und Sozialrevolutionäre Ende 1919 in Irkutsk. Sie vereinnahmten die gesamten Koltschak-Archive, übergaben sie anschließend der Universität Irkutsk, genauer gesagt der Bibliothek der Irkutsker Universität. Was taten die Kommunisten, als sie an die Macht gelangten? Sie beschlagnahmten diese Archive in aller Eile und begannen daran zu arbeiten und alle aktiven Teilnehmer im antibolschewistischen Kampf zu enthüllen. Und schon im Jahre 1922 veröffentlichte die Bevollmächtigten-Vertretung der Allrussischen Tscheka für ihre Behörde ein Buch. Es war ein typographischer Satz, ein Büchlein von etwa 250 Seiten, in dem die Nachnamen der aktiven Teilnehmer am antikommunistischen Kampf aufgelistet waren – unter Hinweis auf ihre Posten, ihr Alter, ihre Spitznamen usw. Und dann begann die Arbeit um das Auffinden dieser Leute, um ihre Verfolgung. So also wurden die Archive von dieser Behörde benutzt. Ein Teil dieser Archive ging in der Folgezeit verloren, denn sie wurden von der Tscheka nach dem Gebrauch vernichtet. Ich denke, ein Teil der Archive wird sich auch noch in der Tscheka-Behörde befinden, ist aber für unsere Forscher nicht zugänglich. Es ist sogar ganz sicher, dass man keinen Zugang zu ihnen hat.

Die Schlußfolgerung über eine ausschließlich strenge Strafpolitik in Sibirien findet ihre Bestätigung auch darin, dass sich das gesamte Territorium der Region bis zum 4. Dezember 1920 im Kriegszustand befand und dieser Zustand auch nach dem 4. Dezember 1920 noch im gesamten Irkutsker Gouvernement aufrecht erhalten wurde; in vielen Bezirken anderer Gouvernements, die insgesamt etwa die Hälfte des Territoriums der Region Sibirien einnahmen, wurde er erneut eingeführt. Letzteres bedeutete, dass den örtlichen Organen der Allrussischen Tscheka die richterlichen Funktionen erhalten blieben, bis hin zur Anwendung und Durchführung der Höchststrafmaße. Derartige Rechte besaßen in den Bezirken, die sich im Kriegszustand befanden, die zivilen Revolutionstribunale.

Zugunsten der hier vorliegenden Schlußfolgerung läßt sich auch das Register der Bevölkerungskategorien Sibiriens anführen, die nicht unter die Amnestien fielen, welche die zentrale und regionale sowjetische Leitung 1920 und 1921 zum 1. Mai und zum Oktoberfeiertag verkündete. Zu denen, die nicht diesen Amnestien unterlagen, gehörte ein großer Bevölkerungskreis. Diejenigen, die keinerlei Chance auf Vergebung hatten, waren ehemalige Mitarbeiter der zaristischen politischen Polizei, Organisatoren und Aktivisten des antikommunistischen Untergrunds und der bewaffneten Kämpfe gegen die Sowjets im Jahre 1918, Anführer antibolschewistischer Regierungen und Leiter der örtlichen Organe ihrer Regierungsmächte, Mitarbeiter der weißgardistischen Gegenaufklärung, Kommandeure (mit Ausnahme von Zwangsmobilisierten) und gewöhnliche Soldaten der Strafeinheiten, die Führer antikommunistischer Meutereien der Jahre 1920-1921 sowie ehemalige Koltschak-Offiziere, die daran teilgenommen hatten.

Mehr noch, am 29. April 1921 hielt auf einer Sitzung des Sibirischen Büros des Zentralkomitees der Kreisausschüsse der Kommunistischen Partei (Bolschewiken) I.P. Pawlunowskij eine Rede mit der Initiative, die Strafpolitik in Sibirien noch zu verschärfen. Er schlug vor, den Organen der Allrussischen Tscheka die Möglichkeit zuzubilligen, bei „Zugehörigkeit zu bourgeois-weißgardistischen Organisationen und Verschwörungen, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, die Sowjetmacht zu bekämpfen oder ihr Schaden zuzufügen (Schädlingstätigkeit)“, die Exekutionsstrafe anzuwenden. „Indem er die Aufmerksamkeit auf das reale Zusammenwirken der Kräfte des Proletariats und der Bauernschaft sowie der konterrevolutionären Aktivität letzterer zum gegenwärtigen Zeitpunkt lenkte, forderte I.P. Pawlunowskij „das Strafmaß in Bezug auf Mitglieder der kleinbürgerlichen Partei der Sozialrevolutionäre, die die konterrevolutionäre Bauernschaft organisierte, sowie der sogenannten Bauernvereinigungen zu erhöhen“. Gewöhnliche I.P.Pawlunowskij schlug vor, Mitglieder der Bauernräte und aktive Sozialrevolutionäre bedingungslos zu isolieren und gegenüber den Leitern der Bauernräte und Mitgliedern sozialrevolutionärer Militärorganisationen den Tod durch Erschießen anzuwenden.

Man kann die sowjetischen Straforgane, die in Sibirien Anfang der 1920er Jahre Repressionen ausgesetzt waren, in zwei Kategorien unterteilen. Die erste – das sind nach Qualifikation der sibirischen Tschekisten Vertreter der sogenannten „historischen“ Konterrevolution, zu denen politische und militärische Gegner der Bolschewisten der vorangegangenen Zeit gehörten. Die größten historischen Gestalten, die innerhalb dieser Kategorie repressiert wurden, waren Mitglieder der ehemaligen Koltschak-Regierung – die Generäle Bakitsch, Matkowskij, Ungern. Elerts-Usow. Zu dem wurden Todesurteile in Sachen der ehemaligen Koltschak-Minister, der Generäle Bakitsch und Ungern verhängt, nachdem über sie öffentlich verhandelt worden war. Die Gerichtstagungen der Tribunale, auf denen diese Verfahren verhandelt waren sorgfältig geplant und wurden vom Sibirischen Büro des Zentralkomitees der Kreis-Ausschüsse der Kommunistischen Partei (Bolschewisten) streng kontrolliert. Sie trugen den Charakter politischer Prozesse in sich, die das Ziel verfolgten, die Ideen und Methoden des konterrevolutionären Kampfes in den Augen der breiten werktätigen Arbeiter- und Bauernmassen in Verruf zu bringen.

Die größten Gruppen, die man der zweiten Kategorie zurechnen kann, die Repressionen ausgesetzt war, waren die Mitglieder antikommunistischer Untergrund-Organisationen und Teilnehmer an Meutereien der Jahre 1920 und 1921, sowie Bauernschuldner, die ihre Lebensmittelsteuern nicht entrichtet hatten.Aber auch andere Bevölkerungskategorien waren Repressionen, und zu dem noch ziemlich grausamen, ausgesetzt. So wurden beispielsweise aufgrund von Urteilen der örtlichen Tscheka, die von I.P. Pawlunowskij oder der Partei- und Sowjetleitung in den Gouvernements sanktioniert worden waren, Frauen erschossen, die kleine Kinder hatten, sowie Halbwüchsige, die noch nicht einmal das 16. Lebensjahr vollendet hatten. Hunderte Menschen wurden aufgrund von Urteilen der Tscheka und der Tribunale erschossen – Urteile, die auf Angaben basierten, welche von den Tschekisten und gerichtlichen Ermittlungsrichtern gefälscht worden waren.

Die genaue Gesamtzahl der in Sibirien in den Jahren 1920 bis 1922 Repressierten, ihre Zusammensetzung, das ihnen gegenüber angewendete Strafmaß – das alles kann man nur durch sorgfältige Enthüllung und Verallgemeinerung aller erhalten gebliebenen Einzel-Informationen annähernd bestimmen. Aber selbst diese fragmentarischen Angaben geben einen Eindruck vom Maßstab und von der Grausamkeit der Repressionen. So fanden zumBeispiel allein während der Lebensmittel-Kampagne 1921/22 in Sibirien 1871 Sitzungen der Revolutionstribunale und Volksgerichte statt. Sie verhandelten 16000 Verfahren, von denen 15000 mit einer Anklage als Steuersünder endete. Wenn man berücksichtigt, dass innerhalb eines Verfahrens in der Regel durchschnittlich 5-6 Personen verurteilt wurden, muß man anerkennen, dass zehntausenden Bauern ein Teil ihres Besitzes oder gar das Gesamtvermögen entzogen wurde, das heißt sie wurden vollständig ruiniert, tausende Bauern wurden zu verschiedenen Haftstrafen verurteilt, zu langem Freiheitsentzug und erzieherischer Zwangsarbeit in Kohle-Schächten, auf Baustellen oder in Industrieunternehmen.

Bereits Anfang der 1920er Jahre rüsteten sich die Tschekisten aktiv zur Provokation. Provokation - das ist nicht nur der Große Terror, sondern es sind Prozesse, die damals nach ganz bekannten Szenarien in Gang gesetzt wurden. Schon 1920 wurden durch die Tschekisten bei uns einige Verschwörungen aufgedeckt, die tatsächlich in der Realität überhaupt nicht existierten. Es hatte sie nicht gegeben, sie waren lediglich Gegenstand tschekistischer Provokation.Die größte „Verschwörung“, die irgendwann einmal auf sowjet-russischem Territorium, in der Sowjetunion, festgestellt wurde, hatte in Sibirien stattgefunden. Und auch sie war von sibirischen Tschekisten „aufgedeckt“ worden. Es handelt sich um die sogenannte „Verschwörung der Sibirischen Bauernvereinigung“, die, sofern man den Tschekisten Glauben schenken kann, das gesamte Territorium Sibiriens erfaßte und mehrere zehntausend Anhänger umfaßte. Für seine Enthüllung erhielt Pawlunowskij den Rotbanner-Orden. Die Tatsache, dass eine derartige Verschwörung in Wirklichkeit gar nicht stattgefunden hat, läßt sich anhand von Dokumenten beweisen. Es gab viele solchser Pseudo-Verschwörungen. Über einige existieren heute bereits Publikationen. Aber da die Provokation bereits zu Begin der 1920er Jahre eine der Methoden tschekistischer Arbeit war, müssen wir uns die Tscheka-Dokumente nicht erst ab den dreißiger Jahren ansehen, sondern von der Zeit an, als diese Organisationen anfingen zu existieren. In gleichem Maße betrifft dies auch die Tätigkeiten der Tribunale. Viele Gerichtsprozesse wurden bereits zu Beginn der 1920er Jahre inszeniert. Sie wurden sorgsam in den leitenden Parteiorganen zusammengeschrieben und dann von den Tribunalen nach dem Szenarium der Parteileitung abgewickelt.

Die Frage zum Maßstab des Terrors ist sehr komplex, denn die Tschekisten veröffentlichten fragmentarische Angaben darüber, wen sie erschossen, wen ins Konzentrationslager oder Gefängnis geschickt hatten. Eine persönliche Vorstellung über den Umfang der in Sibirien angewendeten Höchststrafe – Erschießung – gibt ein Vortrag des Vorsitzenden der Gouvernements-Tscheka in der Altai-Region, den dieser vor der örtlichen Parteileitung hielt. Nach den darin enthaltenen Informationen verurteilte die Altaier Gouvernements-Tscheka allein im Jahre 1920 zehntausend Personen zum Tod durch Erschießen. Diese Zahl bedarf noch der Überprüfung auf ihre tatsächliche Glaubwürdigkeit, denn sie läßt sich schlecht mit den Enthüllungen der heute vorhandenen empirischen Materialien vereinbaren. Falls sie jedoch bestätigt werden sollte, dann werden die Geschichtsforscher gewichtige Korrektiven in der Bewertung der Resultate der sowjetischen Strafpolitik in Sibirien vorlegen müssen.

Egal, wie hoch die konkreten Zahlen der Repressionsopfer auch sein mögen, so läßt sich doch bestätigen, dass die sehr harte Strafpolitik es den Bolschewiken gestattete, in einer für sie äußerst schwierigen Lage zu Beginn der 1920er Jahre ihre Macht in der Region Sibirien zu halten und zu festigen. Das war die Hauptsache. Aber neben der Entscheidung des Machtproblems besaß eine solche Politik auch langfristige Folgen. Man muß hier zwei wesentliche Ergebnisse anmerken. Erstens: dank dieser Politik wurde der mächtige Strafapparat geschaffen und getestet, es formierten sich Kader, für die jede beliebige Parteidirektive mehr wert war, als das Gesetz. Zweitens: physisch und moralisch-psychologisch wurden für lange Zeit diejenigen Bevölkerungsschichten unterdrückt, die während des Bürgerkriegesdem kommunistischen Regime am aktivstenWiderstand geleistet hatten.

Die Haupt-Schlußfolgerung, die man aus der Analyse dieses Materials ziehen kann, besteht darin, dass bereits Anfang der 1920er Jahre in Sowjet-Rußland ein Staatsapparat sowie Straforgane existierten, die in der Lage waren eine Politik der totalen Kontrolle über die Gesellschaft zu verwirklichen. Sie existierten nicht potentiell, sie existierten real. Es standen nur noch die Direktiven der zentralen Leitung und eine günstige Gelegenheit aus,um diesen Apparat in Gang zu setzen.

Frage (Jekaterina Potemkina): Warum waren die Bolschewisten gerade in Sibirien so aktiv hinsichtlich der Durchführung der Strafpolitik? Liegt es an der Besonderheit Sibiriens, dass hier die Tradition der Unterwürfigkeit, Ergebenheit und Kriecherei fehlt?

Antwort: In der Tat war es so, dass die Bolschewisten Sibirien sehr fürchteten; und diese Angst äußert sich in ihrer Politik, die sie aufgrunddessen durchsetzten. Es ist die Politik eines außergewöhnlich zentralisierten und mächtigen Staatsapparats. Die Straforgane waren nur ein Teil dieses Apparats. Ich meine nicht den gesamtem Apparat. Ein in vielen Bereichen derart streng zentralisierter und militarisierter Apparat war auf keinem anderen Gebiet Rußlands so groß wie hier. Sibirien war von oben bis unten von sogenannten Revolutionskomitees durchdrungen. Eine derartige Struktur, angefangen vom Regionsorgan und endend mit den Dorf- oder Siedlungsorganen, hat niemals an irgendeinerr anderen Stelle des Landes existiert. Die bolschewistische Leitung und Lenin fürchteten sich vor der sibirischen Bevölkerung, denn sie hatten verstanden: hier, in Sibirien, leben reiche, wohlhabende, freiheitsliebende Bauern, die keine Leibeigenschaft kennen, die es sich abgewöhnt hatten, vor ihrem Gutsherrn „den Hut zu ziehen“. Hier gab es eine zahlenmäßig große Kosaken-Bevölkerung (Kosaken aus Sibirien, vom Ussuri-Gebiet, vom Jenisej und aus dem Baikal-Gebiet), die zum Kern des Widerstands wurden. Auf der einen Seiten fürchteten die Bolschewiken eine Wiederholung der Ereignisse vom Don, auf der anderen Seite die Machnowschtschina (1917-1921 während der Revolutionswiren von Nstor Machnow organisierte anarchistische bewegung zum Kampf gegen Zaristenund Bolschewisten; Anm. d. Übers.). Sie fürchteten sich so sehr, dass sie auch Präventivmaßnahmen durchführten, unter anderem nach den Regeln ihrer Strafpolitik, um die sibirische Machnowschtschina nicht wieder aufleben zu lassen. Im Großen und Ganzen gelang es ihnen auch, die Partisanenbewegung in Sibirien zu neutralisieren. Die unterdrückte Mehrheit der Partisanen wurde zu Stütze des kommunistischen Regimes.Es zeigte sich auch der Umstand, dass Sibirien unter anderem die Region für politische Verbannung und Zwangsarbeit war. Einerseits gehörten kriminelle Elemente zum Staatsapparat; so saßen sie zum Beispiel in den Straforganen. Andererseits kam auch eine sozialistische Verbannung zum Ausdruck, die auf die örtliche Bevölkerung demobilisierend wirkte. Viele ortsansässige Bauern haben sich unter der Einwirkung dieser sozialistischen Verbannung aufrichtig verirrt, schlossen sich den Bolschewiken an, wurden zu Idealisten und mußten dann später unter diesem Regime leiden. Aber es gab auch verbrecherische Elemente, die mit ihnen gemeiname Sache machten, mit ihnen zusammenarbeiteten. Außerdem sind wir immer mehr davon überzeugt, dass in Sibirien viel einfachere und grobere Sitten herrschten. Einen Menschen in Sibirien zu töten, einen Fremden oder sonst irgendeinen – das war hier kein Problem. Es ist in unserer künstlerischen Literatur sehr schön beschrieben. Das Recht in Sibirien genoß keine Popularität.

Frage (Wiljam Smirnow): Könnten Sie nicht etwas detaillierter von den Dokumenten berichten, in denen das Dirigieren mittels politischer Prozesse fixiert wurde? Zweite Frage. Sie sprachen von Provokationen. Haben Sie dabei auch berücksichtigt, dass einige gefälschte Pseudostrukturen sogar vor der jeweiligen Verhaftung einer Person geschaffen wurden?

Antwort: Zunächst zum Dirigieren durch politische Prozesse, wie sie in Sibirien Anfang der 1920er Jahre eingeleitet wurden. Derzeit bereite ich eine Publikation des Prozesses über die Koltschak-Minister vor; das sind etwa 25 Manuskriptseiten. In den Dokumenten auf Ebene des Politbüros des Zentralkomitees sowie des Sibirischen Büros des Zentralkomitees zeigt sich, wie sie die Vorbereitungen dieses Prozesses lenkten, welche Vorab-Entscheidungen sie darüber trafen, wie diese Prozesse geführt werden sollten: Verteidiger zulassen – ja oder nein, und welche Strafen sie verhängen wollten. Alles war bereits im voraus genau festgelegt. Momentan bereite ich noch ein weiteres Material bezüglich des Ischimsker Prozesses vom Februar 1921 vor. Damals saßen 93 Bauern und 6 Produktionsarbeiter gleichzeitig auf der Anklagebank – die Bauern, weil sie den Aufstand angezettelt hatten, und die Produktionsarbeiter, weil sie sie in eine solche Lage gebracht hatten. So wurden also 46 Bauern zum Tod durch Erschießen verurteilt, und das Urteil wurde auch unverzüglich vollstreckt. Und über die 6 Produktionsarbeiter, die mit ihnen auf der Anklagebank gesessen hatten, sagte Lenin auf dem 10. Parteitag, dass sie erschossen worden seien. Aber das war eine Lüge. Lenin belag die Kommunisten auf diesem 10. Parteitag. In Wirklichkeit wurde nur einer von ihnen erschossen, einer starb – allerdings im Gefängnis, die anderen wurden bereits nach drei Monaten, sogar ohne Amnestie, entlassen. Sie nahmen erneut leitende Posten ein und arbeiteten wie zuvor in irgendeinem Produktionsapparat im Tjumensker Gouvernement.

Und nun zu den Provokationen. Die Tschekisten hatten für einige Verschwörungen ein ganz bestimmtes Schema der Bearbeitung parat. Ich rede hier jetzt nur von der Sibirischen Bauernvereinigung: eine solche Organisation existierte tatsächlich, sie wurde im Altai-Gebiet gegründet und an ihrer Spitze standen recht offensichtliche Sozialrevolutionäre und Volkssozialisten. Sie existierte, aber ihre Maßstäbe waren ganz andere. Aber als es den Tschekisten gelungen war, die führenden Köpfe der Sibirischen Bauernvereinigung zu verhaften, begann ein Spiel zwischen der Tscheka-Leitung und der Leitung der Sibirischen Bauernvereinigung. Ein spitzfindiges Spiel! Sein Sinn bestand darin, dass die Tschekisten eine riesengroße Verschwörung aufdecken und dafür eine Auszeichnung bekommen wollten, während die Leitung der Sibirischen Bauernvereinigung die Tschekisten in dieser Sache unterstützen und ihr Leben retten wollte. Tatsächlich machten die Obersten der Sibirischen Bauernvereinigung auch fein ihre Aussagen, denen zufolge Verhaftungen auf dem gesamten sibirischen Territorium durchgeführt wurden, aber ein Jahr später wurden buchstäblich alle Arrestierten aus Mangel an Beweisen wieder in die Freiheit entlassen. Allerdings wurden sie danach in verschiedene Gouvernements versetzt. So hatten die Leiter der Sibirischen Bauernvereinigung ihr Leben gerettet, indem sie den Tschekisten behilflich waren. Es gab auch noch viel grobere Provokationen, bei denen die Leute zuerst verhaftet wurden und man anschließend aus ihnen konterrevolutionäre Organisationen „gründete“, die überhaupt nicht existierten; und die Personen selbst wurden zum Tod durch Erschießen verurteilt. Derartige Materialien sind ebenfalls bereits veröffentlicht. Es handelt sich um die Leninsche und die Nowonikolajewsker Verschwörung.

Frage (Wenjamin Jofe): Der Befehl, dass jeder Kommunist auch ein Tschekist sein sollte, ist das eine rein sibirische Initiative?

Antwort: Darüber hat Wladlen Semjonowitsch Ismosik in seiner Monografie „Augen und Ohren eines Regimes“ recht genau geschrieben. Ja, es gibt ein Dokument, demgemäß eine Direktive des Zentralkomitees der Partei herauskam, und parallel dazu gab es auch eines auf der Ebene der Allrussischen Tscheka: absolut alle Kommunisten sollen mit den Organen der Tscheka zusammenarbeiten. Es war nicht einfach, dies im realen Leben umzusetzen. Denn einerseits gab es einige Mißverständnisse bei den örtlichen Parteileitern, wie man das in der Praxis realisieren sollte: sie wußten nicht, wie das technisch möglich gemacht werden konnte; und es existierte auch ein zaghafter Widerstand seitens einzelner Kommunisten. Auch solche Fakten wurden fixiert. Und trotzdem wurde diese Direktive ins Leben gerufen.

Kommentare und Frage (Andrej Suslow): Möglicherweise wurden in Sibirien tatsächlich die allermächtigsten Straforgane geschaffen und eine außerordentlich grausame Strafpolitik durchgesetzt - vielleicht sogar die grausamste im ganzen Land überhaupt. Aber wie soll man definieren, wo sie grausam war und wo weniger grausam? Soweit ich das Material der Region Perm kenne, war auch bei uns der „rote Banditismus“ sehr verbreitet; es wurden viele Gräueltaten beschrieben und entsprechende Dokumente veröffentlicht. Auch im Wjatsker Gouvernement gab es den „roten Banditismus“. Darüber sprach 1993 auf unserer Konferenz der wjatsker Geschichtsforscher Jurij Timkin. Dort war die skandalöse, sehr bekannte Lapun-Truppe unterweg, von deren Taten einem das Blut in den Adern gefriert. Wie können wir da ermitteln, dass die Strafpolitik in Sibirien, die von den Erscheinungen des „roten Banditismus“ begleitet war, viel grausamer war und in einem viel größeren Maßstab durchgeführt wurde?

Antwort: In der Tat ist es eine strittige These, ob die Politik grausamer oder nicht grausamer war. Natürlich wissen wir noch recht wenig darüber, wie es sich in anderen Regionen verhielt, aber ich muß sagen, dass Sibirien auf dem Plenum des Zentralkomitees der Partei im Jahre 1921 im Hinblick auf diese Frage einer ganz besonderen Betrachtung unterlag. Im Juli 1921 wurde das Thema des „roten Banditismus“ in Sibirien auf dem Plenum des ZK erörtert. Kein einzige andere Region war einer solchen Aufmerksamkeit, einer derartigen „Ehre“ würdig. Das ist bezeichnend.

Menschenrechte in Rußland: Vergangenheit und Gegenwart.
Sammlung von Referaten und Materialien der wissenschaftlich-praktischen Konferenz.
Perm, 21.-23. Juni 1999
Verlags-polygraphischer Komplex „Swesda“ (Sterne; Anm. d. Übers.)


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