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Ausstellungsprojekt „Am Wendepunkt der Zeit. Geschichte und Kultur der Rußland-Deutschen“ als Beispiel für eine sozial ausgerichtete internationale Partnerschaft.

I.S. Lisenko
Wissenschaftlicher Mitarbeiter
Kulturhistorischer Museumskomplex der Stadt Krasnojarsk

Der Artikel stellt das Ausstellungsprojekt „Am Wendepunkt der Zeit. Geschichte und Kultur der Rußland-Deutschen“ als Beispiel für eine sozial ausgerichtete internationale Partnerschaft, das Zusammenwirken von Machtstrukturen und staatlichen Behörden mit national-kulturellen gesellschaftlichen Vereinigungen vor.

Die Präsentation des Projekts fand im Dezember 2003 statt. Und ausgerechnet dieses Projekt war das erste einer ganzen Reihe von Nachfolgeprojekten, die vom Kulturhistorischen Museumskomplex der Stadt Krasnojarsk gemeinsam mit der deutschen Seite im Laufe des Kahres 2004 realsiert werden konnte (2004 wurde zum Jahr der Deutschen in Rußland erklärt).

Die Idee zur Verwirklichung des Projekts stammt von der Krasnojarsker national-kulturellen Autonomie der Rußland-Deutschen. Finanzielle Unterstützung leistete das Generalkonsulat der BRD. Unter den Partnern befinden sich der Lehrstuhl für deutsche Sprache der Staatlichen Pädagogischen B.P.Astafjew-Universität in Krasnojarsk, das Zentrum für deutsche Kultur und Bildung an derselben Universität, die Evangelisch-Lutherische Gemeinde und der Kultruhistorische Museumskomplex der Stadt Krasnojarsk.

Dem Projekt, von dem im hier vorliegenden Artikel die Rede ist, gingen jahrelange partnerschaftliche Beziehungen der national-kulturellen Autonomie der Rußland-Deutschen mit dem Kulturhistorischen Museumskomplex der Stadt Krasnojarsk voran. Im wesentlichen wurde der Grundstein für die beiderseitige Partnerschaft ursprünglich zur Entwicklung toleranter zwischennationaler Beziehungen gelegt; des weiteren wollte man die Wahrung ethnischer Eigenarten auf dem Wege der Entwicklung der traditionellen nationalen Kultur in der deutschen Diaspora der Region Krasnojarsk (1) fördern. Der Mechanismus der partnerschaftlichen Beziehungen zeigt sich in der Zusammenarbeit der Autonomie mit dem Zentrum für Völkerkunde der Region Krasnojarsk (einer Unterabteilung des Kulturhistorischen Museumskomplexes). Der Vorsitzende der Autonomie gehört zum Rat der Vorsitzenden am Zentrum für Völkerkunde, in dem sich siebenundzwanzig national-kulturelle Vereinigungen zusammenfinden (2). Die Vereinigung hat ihre Rolle bei der Harmonisierung der zwischenethnischen Beziehungen auf dem Territorium der aus zahlreichen Nationalitäten bestehenden Region Krasnojarsk verstanden und baut ihre Wechselbeziehungen mit dem Zentrum für Vökkerkunde nach dem Prinzip des „Kultur-Dialogs“ weiter aus.

Die deutsche national-kulturelle Autonomie der Rußland-Deutschen hat sich seit dem Momenbt ihrer Gründung aktiv an diesem Dialog beteiligt. Zu den zahlreichen Projekten, die einen einzigartigen Raum geschaffen haben, in dem sich auf wunderbare Weise Kultur, Tradition und Erinnerungen miteinander verflechten, gehören auch das jährlich stattfindende Festival nationaler Kulturen unter dem Motto „Sibirien hat uns verbunden“, die Woche der Kultur der Region Krasnojarsk und die Museumsnacht.

So nehmen beispielsweise Künstlerkollektive der Autonomie an den kulturellen Veranstaltungen anderer national-kultureller Gesellschaften teil. Und im Gegenzug finden sich bei deutschen Fest- und Feiertagen stets auch Vertreter anderer Gemeinschaften ein.

Neben der Teilnahme an den Projekten des Kulturhistorischen Komplexes organisiert die Autonomie ihre eigenen national-kulturellen Veranstaltungen: den Tag der deutschen Kultur, in dessen Rahmen Werke deutscher Künstler aus Sibirien ausgestellt werden. Hier werden die nationalen Festtage gefeiert. Jedes Jagr, am 28. August, versammeln sich die Rußland-Deutschen im Museumskomplex, um der Opfer politischer Repressionen zu gedenken. Und es ist überhaupt kein Zufall, daß der Gedenktag in diesem Jahr ausgerechnet mit der Ausstellung
„Am Wendepunkt der Zeit. Geschichte und Kultur der Rußland-Deutschen“ begann, auf der die zahlreichen Anwesenden ihre Erinnerungen und Geleitworte mündlich an die jungen Leute übermittelten.

Die Hauptidee des Projekts – mit Hilfe alltäglicher Gegenstände, Dokumente, Fotografien das Leben des Rußland-Deutschen am Wendepunkt des geistigen und wirtschaftlichen Lebens, seine Fest- und Feiertage und seine Freizeitgestaltung aufzuzeigen.

An den langen Winterabenden, wenn es nicht mehr so viel Arbeit zu erledigen gab, kamen die erwachsenen Männer mal bei dem einen, mal bei dem anderen zusammen, erzählten sich alltäglich und auch nicht alltägliche Geschichten, teilten ihre Eindrücke und Gedanken miteinander, spielten Karten und tranken. Auch die Frauen trafen sich an den Abenden in Gruppen mit Strickzeug oder anderen Handarbeiten, sangen deutsche Volkslieder und klatschten und tratschten ohne Ende (22;3).

Im Zusammenhang mit der Tatsache, daß die deutsche Diaspora sich in einem von derart vielen Völkern bewohnten Gebiet wie der Region Krasnojarsk herausbildete, wird bei der Beleuchtung ihres Lebensalltags ganz besondere Aufmerksamkeit auf die Erfahrungen mit dem freundschaftlichen Nebeneinander von Menschen unterschiedlicher Nationalität, Mentalität und Kultur gelegt.

Als Kernstück für die Exposition wurde Erde gewählt. Sie drückt symbolisch das Streben des Volkes nach Freiheit und Leben mit all seinen Träumen und Idealen aus. Der Boden jeder Vitrine ist mit Erde ausgelegt. Darauf hat man alle Exponate angeordnet. Außerdem ist Erde bei den Deutschen, wie übrigens auch bei zahlreichen anderen Völkern, gleichbedeutend mit der zurückgelassenen Heimat.

In Leningrad findet in den 1990er Jahren auf der Schtschetnikowa, im Kinotheater Spartak, jeden Sonntag um 11 Uhr ein Gottesdienst statt

- Ich sitze immer in der fünften Reihe. Du wirst mich sofort erkennen. Komm unbedingt dort hin, - beharrte meine Freundin.

Margarita Petrowna war, wie es so schön hieß, Feuer und Flamme und beeilte sich so sehr zum Gottesdienst zu kommen, daß sie statt um elf bereits um zehn Uhr dort eintraf.

Außer ein paar Frauen war in dem Raum noch niemand anwesend. Mit einer von ihnen schloß Margarita Petrowna Bekanntschaft.

Du wirst es nur schwerlich glauben, aber der Vater dieser Frau war in der Lirche der Schuwalowsker Kolonie Pastor gewesen, dort, wo Margarita Petrowna geboren wurde. Und er war es, bei dem Margarita Petrownas Mutter, damals ein sechzehnjähriges Mädchen, konfirmiert wurde.

- Als der Gottesdienst begann, war ich so gerührt, daß ich weinen mußte,- erinnert sich Margarita Petrowna. Die Tränen liefen nur so über mein Gesicht, aber es waren Tränen der Freude.

Ich hatte das Gefühl zuhause zu sein.

- Mir fällt sofort ein, wie wir Kinder in die Kirche rannten, um den Blasebalg für die Orgel zu treten. Das hatte man uns erlaubt, - bemerkt Margarita Petrowna stolz. Und später im Gottesdienst war uns so feierlich und froh zumute!
Und jetzt vernimmt sie erneut Orgelklänge. Und alles in ihr gerät in Bewegung. Es war wie eine große Erleichterung.

Der wichtigste Platz im Ausstellungsraum befindet sich neben einem Glaskreuz – dem Symbol der christlichen Demut, des Einverständnisses mit dem Willen Gottes. In ihm sieht man Dokumente, die den Wendepunkt in der Geschichte der Rußland-Deutschen (Deportation, politische Verfolgung) betreffen.

Um das errichtete Kreuz wurde ein spezieller Platz für mehr als einhundert altertümliche deutsche Bibeln und handgeschriebene heilige Schriften zur Verfügung gestellt. Die früheste Bibel datiert aus dem Jahre 1912. Sie alle wurden im Laufe von zehn Jahren in der Region Krasnojarsk von der Evangelisch-Lutherischen Gemeinde gesammelt. Für die Ausstellung wurden sie von Pastor Blumke vorgestellt. Über die Rolle der Religion im Schicksal des Rußland-Deutschen und die Standhaftigkeit seines Charakters zeugen ausdrucksvoll die heiligen Schriften, die akkurat mit der Hand abgeschrieben wurden – stellenwiese auch mit einem einfachen Bleistift in ein ganz gewöhnliches liniertes Schreibheft. Bei der Präsentation des Projekts hockten die Menschen still, aber mit sichtbarer Erregung vor den Bibeln, um ehrfürchtig darin zu blättern.

Noch eine sehr interessante Idee ist die Vielzahl der Fotografien. Auf der Ausstellung gibt es mehr als 150. An einem Band ziehen sie sich in zwei Streifen diagonal durch den Ausstellungsraum. Der niedriger hängende Streifen besteht aus Schwarzweiß-Aufnahmen von bereits Verstorben und Vertretern der Generation, die diese Erde auch bald verlassen werden. An dem oberen Streifen sind Farbfotos der heutigen Generation zu sehen. Besucher der Ausstellung lenken sogleich ihre Aufmerksamkeit auf die einzigartigen Fotos von Offizieren der Weißgardisten-Armee in Uniform, behängt mit Medaillen. Und sogleich taucht die Frage auf, „wie es den Menschen wohl gelungen sein mag, diese Familienreliquien zu erhalten – trotz der Lebensbedrohungen, denen sie und ihre nächsten Verwandten ausgesetzt waren“.

- Sie versteckten sie zwischen ihren Sachen, nähten sie in ihre Kleidung ein, - erzählt die nicht mehr junge Besitzerin der Fotografie.

Die Fotoserie wird vervollständigt durch eine altertümliche Stellage mit künstlerischen, wissenschaftlichen sowie Kinderbüchern. Eines von ihnen verdient besondere Beachtung. Es handelt sich um die „Neue Ökonomische politik und die Parteikrise nach Lenins Tod“. Tatsächlich befindet sich hinter dem leuchtend roten Einband eine vom vielen Anfassen vollkommen zerschlissene Bibel.

Für die Festtagstraditionen hat man spezielle Vitrinen zur Verfügung gestellt, deren Inhalt jeweils beim Herannahen eines anderen Feiertags entsprechend geändert wird.

Unter den Exponaten, die die deutsche Kultur, den Alltag der Rußland-Deutschen, charakterisieren, zeigt die Ausstellung selbstgefertigte Messer, hergestellt von deutschen Häftlingen in sibirischen Lagern, ein Spinnrad, eine Nähmaschine mit gotischer Schrift auf dem gehäuse, ein silbernes Spiegelchen, einen brautkranz und vieles mehr.

Jekaterina Edgard konnte gut mit Kohleund mit dem Bleistift zeichnen. Sie liebte es, sich stundenlang mit Kreuzsticharbeiten zu beschäftigen, wobei sie alles Schöne, was sie umgab in diesen Handarbeiten zum Ausdruck brachte.

Durch die leidenschaftliche Liebe zur Schönheit und zum Sticken entstand eine Familiengeschichte, von der heute Elisaweta, Jekaterinas Enkelin, ihren Kindern erzählt.

Jedesmal, wenn Jekaterina ein Kind erwartete, und sie hatte insgesamt acht, stickte sie eine Serviette. Zur Geburt von Jelisawetas Mutter war die nächstfolgende, siebte Serviette fertiggestickt – nach den Motiven einer der Skulpturen, die sich im Sommergarten befanden. Die Einrichtung des Hauses, in dem Jekaterina mit ihren Kindern wohnte, war äußerst bescheiden; deswegen dekorierte sie eine der Wände mit diesen acht Servietten.

Am Vorabend der Evakuierung in die Region Kemerowo im Jahre 1943 (damals lebte Jekaterina bereits nicht mehr), nahm die älteste Tochter Jelisaweta alle Servietten von der Wand und versteckte sie, ohnen jemandem davon zu erzählen. Sie blieben alle erhalten.

- Sobald ich mich am neuen Wohnort ein wenig zurechtgefunden und eingerichtet habe, - dachte sie, - werde ich jede einzelne Serviette demjenigen zurückgeben, der der rechtmäßige Eigentümer ist.

Aber der Krieg verhinderte ein Zusammentreffen mit den anderen. Unmittelbar nach Kriegsende übergab Jelisaweta die Servietten ihren Schwestern und den Kindern der beiden im Krieg gefallenen Brüder (5).

Auf der Ausstellung liegen Vergangenheit und gegenwart dicht nebeneinander. Über das Leben des heutigen Rußland-Deutschen berichtet ein Stand mit ständig wechselnden Materialien zu den Aktivitäten der national-kulturellen Autonomie der Rußland-Deutschen, zur Arbeit des Zentrums der deutschen Kultur und des Lehrstuhls für deutsche Sprache an der Staatlichen Universität Krasnojarsk.

Der Ausstellungsbestand wurde über Jahre gesammelt. Seine Grundlage bildeten Exponate, die Studenten der Staatlichen Universität Krasnojarsk unter der Leitung des Lehrstuhls für deutsche Sprache während ihrer Sprach-Studienreisen in Städte und Dörfer der Region Krasnojarsk zusammensuchten. Viele Gegenstände, die mit der Zeit zu wahren Familienreliquien wurden, brachten Mitglieder der Autonomie mit.

Die Ausstellung versteht sich vor allem als kommunikatives Museumsprojekt; es ist beabsichtigt, durch verschiedene Formen und Methoden mit den Ideen und Gefühlsmustern der Besucher zu arbeiten.

Für alle Interessenten gibt es hier auch Seminare, Gespräche am runden Tisch zur geschichte der Rußland-Deutschen, es werden Wettbewerbe für die beste Übersetzung von Gedichten deutscher Autoren ins Russische durchgeführt. Jeder kann an einem Lesewettstreit deutscher Poesie teilnehmen (6).

Das reichhaltige Material der Ausstellung eröffnet mit Hilfe der Museumstechniologie breite Möglichkeiten für die Einrichtung eines neuen Raumes für zwischennationale Kontakte, die auf den Kenntnissen und dem Verständnis der Kultur anderer Völker basieren.

Wie die Praxis zeigt, spielen die Wechselbeziehungen der Diaspora und ihrer Partner aus der ethnischen Heimat die wichtigste Rolle bei der Entwicklung der Kultur innerhalb der zwischennationalen Kontakte. Leuchtendes Beispiel für eine derartige Partnerschaft ist das Projekt „Am Wendepunkt der Zeit. Geschichte und Kultur der Rußland-Deutschen“.

Anmerkungen

Berichterstatterin – Valentina Nikolajewna Bondarewa, stellvertretende wissenschaftliche Generaldirektorin am Museumskomplex für Kultur und geschichte.
Berichterstatterin – Nina Michailowna Slesarewa, Direktorin des Internationalen Kulturzentrums der Region Krasnojarsk.
R.A. Maier. Das Schicksal des Rußland-Deutschen. Teil I, Krasnojarsk 2000.
Berichterstatterin – Margarita Petrowna Reich. Mitglied der regionalen national-kulturellen Autonomie der Rußland-Deutschen in Krasnokarsk.
Berichterstatterin – Jelisaweta Iwanowna Edgardt, Mitglied der regionalen national-kulturellen Autonomie der Rußland-Deutschen in Krasnokarsk.
Berichterstatterin – Natalia Wladimirowna Agapowa, Vorsitzende der regionalen national-kulturellen Autonomie der Rußland-Deutschen in Krasnokarsk.

Krasnojarsker Museumskomplex für Kultur und Geschichte. Bote N° 10. Methodisches Forschungsseminar zum Thema „Politische Repressionen in der UdSSR“.Oktober 2004. Krasnojarsk 2005.


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