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Olga Tichowskaja. Die Biographie eines GULAG-Häftlings als Geschichte interkultureller Transformation: der „russische“ Amerikaner Victor Herman auf der Suche nach der Identität

Veröffentlichung:
O.A. Tichowskaja. Die Biographie eines GULAG-Häftlings als Geschichte interkultureller Transformation: der „russische“ Amerikaner Victor Herman auf der Suche nach der Identität // Das Recht auf einen Namen: Biographik des 20. Jahrhunderts. Neunte Lesungen zum Gedenken an Wenjamin Jofe. 20.-22. April 2011 – Sankt Petersburg, 2012 – S. 170-177 [[187 S.]]

Am 18. August 1938 fanden auf dem in der Nähe von Moskau gelegenen Flugplatz Flug-Vorführungen statt, die dem Tag der Fliegerei gewidmet waren. An der wirkungsvollen, mehrstündigen Veranstaltung nahmen Fallschirmspringer, Besatzungen von Sport-, Post-, Passagier- und Militärflugzeugen teil. Eine der Zeitungsreportagen über dieses Ereignis endete mit den Worten: „Es war ein Festtag der stalinistischen Generation fliegender Menschen“.

Unter den Zuschauern befand sich auch der legendäre amerikanische Pilot, Erfinder und Funktionär des öffentlichen Lebens – Charles Lindbergh. Seine Ankunft in Moskau fiel nicht zufällig mit dem Feiertag der sowjetischen Luftfahrt zusammen: die Meinung des Nationalhelden Amerikas über die „stalinistischen Falken“ war für die Politiker der USA und die Lindbergh gewogenen Führer Nazi-Deutschlands interessant.

Zwei Monate später, in Berlin, wird der General-Feldmarschall der Luftwaffe, Hermann Göring, Oberst Charles Lindbergh den Orden des Deutschen Adlers verleihen. Kurz zu vor hatte ein anderer Staatsbürger der USA, ein Freund Lindberghs, der Erfinder und Automobil-Magnat Henry Ford, eine hohe Auszeichnung des Dritten Reichs erhalten.

Die handelnden Personen der großen Geschichte und bemerkenswerten Gestalten der amerikanischen Kultur des 20. Jahrhunderts, der in Detroit gebürtige Henry Ford (1863-1947) und Charles Lindbergh (1902-1974) waren Helden für Millionen kleiner Jungen, unter anderem auch für ihren Landsmann, den Sohn russischer Emigranten Victor Herman (25. September 1915, Detroit, USA – 25. März 1985, Southfield, USA).

Bei all dem unterschiedlichen Umfang des persönlichen Potentials, der Unwiederholbarkeit individueller Erfahrung und Errungenschaften ist es unmöglich, bei der Rekonstruktion der Biografie Victor Hermans die „merkwürdigen Annäherungen“ und Parallelen zu ignorieren. Als beispielsweise Henry Ford der Nazi-Orden wegen besondere Verdienste überreicht wird, legen sie dem amerikanischen Staatsbürger Victor Herman, verhaftet am 20. Juli 1938 in Gorki, eine gefälschte Anklageschrift wegen Spionagetätigkeit zu Gunsten von Fords Firma vor. An dem Tag, als Charles Lindbergh aufmerksam die Fliegerparade beobachtet, befindet sich Victor Herman, der ist kürzlich Kurse an der Fallschirm-Hochschule absolviert hat und den man seit seinem endlos langen Rekordsprung als „russischen Lindbergh bezeichnet, nicht unter den Teilnehmern der Flugschau in Tuschino, sondern in einer Gefängniszelle, wo er auf sein nächtliches Verhör mit Folterungen wartet. Als Opfer der stalinistischen Verfolgungen und anschließend als Geisel der Zeit des „Kalten Krieges“ verbrachte Victor Herman zwei Drittel seines Lebens in der UdSSR. Am 15. Februar 1976 wurde endlich seine Rückkehr in die USA möglich.

In der neu gewonnen Heimat schreibt der „russische“ Amerikaner Victor Herman sein autobiographisches Buch und erzählt seinen Landsleuten davon, wie er in die Sowjetunion gelangte und in der Nischegorodsker (ab 1932 – Gorkowsker) Automobilfabrik arbeitete, wie er Sportler, Fallschirmspringer wurde, und dann – „amerikanischer Spion“, Häftling des GULAG und Verbannter in der Region Krasnojarsk.

Während ich meine Arbeit an der Rekonstruktion der Biografie Victor Hermans fortsetze, möchte ich in der vorliegenden Publikation eine der Herangehensweisen zur Interpretation der Ereignisse seines Lebens vorstellen.

Insgesamt stammen die Informationen, die ich im Laufe der Forschungsarbeit zusammengetragen habe, aus folgenden Quellen. Vor allen Dingen handelt es sich dabei um Materialien mit Äußerungen persönlichen Charakters (drei Bücher Victor Hermans, herausgegeben in den USA, Fragmente aus seinen Manuskripten, Veröffentlichungen in der amerikanischen und sowjetischen Presse, Interviews und Artikel). Quellen, welche indirekte Zeugnisse enthalten – Gesprächsnotizen mit Angehörigen, Rechtsanwälten und Freunden in den USA, Interviews mit Victor Hermans Schülern und Bekannten in Kischinjow, sowie Dokumente aus dem Archiv des Ford-Museums in Dearborn., Buch-Rezensionen und ein Spielfilm, der nach der Autobiografie gedreht wurde, Fotografien aus Familien-Archiven und verschiedenen periodischen Ausgaben. Eine gesonderte Gruppe machen die Dokumente aus, die mit dem Gerichtsprozess „in Sachen Victor Herman gegen die Ford Motor Company“ (1978-1985) im Zusammenhang stehen, darunter Kopien von Klageschriften, Gesuchen, Appellationen, schriftlichen Aussagen unter Eid und Memoranden.

Bis zu seinem 16. Lebensjahr lebte Victor German in den USA (Detroit. Michigan), danach – 45 Jahre in der UdSSR (Gorki, Krasnojarsk, Kischinjow) und, nach seiner Rückkehr in die Heimat, noch weitere neun Jahre in Detroit. Auf diese Weise war die internationale Kommunikation Victor Hermans lebenslänglich eine objektive Gegebenheit, eine Bedingung für die Verwirklichung des persönlichen Potentials.

Die vollwertige Lebensbeschreibung beabsichtigt nicht nur die Rekonstruktion der Ereignisse der äußeren Biografie, sondern auch die Wiederherstellung des Prozesses der Persönlichkeitswerdung. Die innere Biografie Victor Hermans hängt mit der Akkulturation (Gewöhnung an eine neue Kultur; Anm. d. Übers.) zusammen, das heißt mit einer zweiten Sozialisierung, in deren Verlauf der Mensch eine für ihn neue Kultur, ihre Normen, Traditionen, den Schlüssel zu ihnen und Konventionen erschließt. Außerdem geht die Angleichung an ein anderes Kultur- und Sprach-Umfeld sowie soziale Normen einher mit einem Kulturschock und kognitiven Dissonanzen. Für Victor Herman verkomplizierte sich die Akkulturation durch den innerpolitischen Kontext eines totalitären Staates und der extremen Umstände der stalinistischen Repressionen in der UdSSR.

Unter Berücksichtigung der Zeitrahmen des „anderskulturellen“ Alltags von Victor Herman, ist die Rekonstruktion seiner Biografie als Geschichte einer interkulturellen Transformation seiner Persönlichkeit möglich.

In methodologischer Hinsicht wird für die vorliegende biografische Forschungsarbeit, bei der Interpretation der Schlüsselereignisse des Lebens, die sich im historischen Kontext zweier nationaler Kulturen ereigneten, der Hinwendung zur Theorie der interkulturellen Kommunikation Rechnung getragen, für die Interdiszipliniertheit sowie Anthropozentrismus bei der Annäherung an die Analyse des Problems charakteristisch sind. Unter den vorrangigen Richtungen nimmt der Dialog zwischen den amerikanischen und russischen Kulturen einen besonderen Platz ein, und in den vergangenen zwei Jahrzehnten traten n8icht wenige Arbeiten in Erscheinung, die den verschiedenen Aspekten der russisch-amerikanischen interkulturellen Kommunikation gewidmet sind.

Der vorliegenden biografischen Rekonstruktion liegen Begriffe zugrunde wie persönliche und national-kulturelle Identität, sprachliche Persönlichkeit, Enkulturation und Akkulturation, Werte, Stereotype, Kultur-Schock, interkulturelle Transformation.

Die Russland-Emigranten Sam und Rosa Herman ließen sich nach 1909 in Detroit nieder. Das Familien-Oberhaupt – Arbeiter, Aktivist der Gewerkschaftsbewegung und Mitglied der Kommunistischen Partei der USA. Für die Kinder Rebekka, Leo, Viktor und Miriam war der Vater ein Abgott. Ab 1924 wurde eine Büste Lenins, welche eine russische Arbeiter-Delegation Sam Herman als Geschenk mitgebracht hatte, wie eine unschätzbar wertvolle Reliquie aufbewahrt. Victor führte die Parteibefehle des Vaters aus, hielt vor der Pionierorganisation beim Arbeiterclub Reden und später – in der Kommunistischen Jugend-Liga der USA.

Am 6. März 1930 nahm die Familie Herman am Arbeitermarsch gegen die Arbeitslosigkeit in Detroit teil. Ende August 1930 befanden sich die Brüder Herman zusammen mit dem Vater im kommunistischen Sommerlager Camp Farmington, welches einer Polizei-Razzia unterzogen wurde, in deren Verlauf mehr als ein Dutzend Personen verhaftet wurden, unter ihnen auch Sam und Leo Herman.

Diese biografischen Fakten und Erinnerungen Victors über seine Kinderträume, die auf amerikanischen Realien und Werten basieren, geben eine Vorstellung vom Prozess der Enkulturation und Formung der persönlichen Identität des Heranwachsenden. Wir ihn existiert das Amerika seines Vaters und – das andere Amerika. Der Vater ist ein kühner und edelmütiger Mann, der aufrichtig seine Arbeit macht. Doch die Polizisten sind ebenfalls mutige Menschen, auch sie verrichten aufrichtig ihre Arbeit, indem sie Haussuchungen in den Häusern der Aktivisten durchführen und Arbeiter-Demonstrationen auseinandertreiben. Für den Vater und seine Genossen ist Lenin aus dem fernen Russland der Held und Genius der Revolution. Aber Henry Ford – das Automobil-Genie und der Held Amerikas; in seinen Unternehmen kann man pro Tag fünf Dollar verdienen.

Charles Lindberghs Transatlantik-Flug im Jahre 1927 und die Flugzeuge am Himmel von Detroit begeisterten den Heranwachsenden, der davon träumte, einmal Pilot zu werden. Aber anfangen musste man mit der Entscheidung erdnaher Fragen und Probleme. Wegen Teilnahme an der Organisation von Protesten wird Victor aus der technischen Cass-Schule ausgeschlossen. Fast zwei Jahre stand der Name des Vaters, des Kommunisten und Gewerkschaftsaktivisten in den – „schwarzen Listen“. Aber mit dem Herannahen der Krise, der Großen Depression, gab es für den arbeitslosen Sam Herman und seine Mitstreiter eine Menge zu tun: das Organisieren von Streikposten, Demonstrationen, Protestmärschen.

Am 31. Mai 1929 wurde ein Abkommen zwischen dem Obersten Sowjet für Volkswirtschaft der UdSSR und der „Ford Motor Company“ unterzeichnet, welches technische Hilfestellung für die Sowjetunion bei der Massen-Produktion von Last- und Personenkraftfahrzeugen vorsah. Nachdem er daran mitgewirkt hatte, die Kontakte der sowjetischen Vertreter mit den entsprechenden Abteilungen der „Ford Motor Company“ in Gang zu bringen, fasst Sam Herman den Beschluss, sich in die UdSSR zu begeben; er unterschreibt einen Dreijahresvertrag.

Am 23. September 1931 reiste Victor, der ebenfalls einen Vertrag mit Hilfe der Ford Company unterzeichnet hatte, zusammen mit seinen Eltern, Bruder und Schwester aus Detroit ab. Diese Wahl war von der Autorität des Vaters, der Geschlossenheit des Familienverbandes, den finanziellen Schwierigkeiten sowie den Stereotypen des jungen Victor beeinflusst worden. Zum Beispiel: „Die meisten Russen können nicht Autofahren“, „die Russen kennen sich schlecht mit Technik aus“, „wenn man einmal in Russland gearbeitet hat, kann man in Amerika schnell Karriere machen“, „eine Reise nach Russland ist ein interessantes Abenteuer“.

Auf der anderen Seite spielen die russischen /sowjetischen) Stereotype in Bezug auf Amerika und die Amerikaner ebenfalls eine ganz bestimmte Rolle in Victors Schicksal, vor allen Dingen ein Stereotyp wie „alle Amerikaner können Autofahren, und das heißt, sie können auch ein Flugzeug lenken“. Am Autowerk Gorki beschäftigte sich Victor, Mitglied der Komsomolzen-Zelle ausländischer Arbeiter, aktiv mit Sport, nimmt an zahlreichen Wettbewerben teil und tritt dem M.W. Wodopjanow-Aeroclub der Autofabrik bei. Nach Victors eigenem Geständnis hätte er derartige Möglichkeiten in den USA nicht realisieren können. Sportveranstaltungen und Training, Flüge und Sprünge mit dem Fallschirm nehmen einen Großteil seines Lebens ein, was von einem Prozess der Akkulturation zeugt.

Die Mutter begann, Victor während der langen Reise von Detroit nach Nischnij Nowgorod (ab 1932 – Gorki) in russischer Sprache zu unterrichten. Eine Reihe von Diskurs-Ereignissen, die Victor in seinen Büchern beschreibt, vermittelt eine Vorstellung davon, wie sich die sprachliche Persönlichkeit in dem neuen kulturellen Kontext formierte. Einige biografische Situationen (1931-1938) dienen als Beispiel erfolgloser Kommunikation: Victor versteht nicht immer des Sinn des Geschehenen, denn die Sprache seiner Gesprächspartner ist angefüllt mit impliziten Äußerungen und enthält jede Menge Redewendungen und Syntax-Konstruktionen der mündlichen Rede, die der junge Victor sich noch nicht angeeignet hat.

Doch im Laufe der folgenden Jahrzehnte wird Victor zum qualifizierten Nutzer der russischen Sprache. Viele von denen, die Victor in den 1960er bis 1970er Jahren kennenlernten, erinnern sich, dass er perfekt Russisch sprach und nicht den Eindruck eines Ausländers hinterließ.

Die Natürlichkeit und Adäquatheit des Sprechens in einer Sprache, die nicht seine Muttersprache war, dient als einer der Marker für die Transformation der sprachlichen Identität. Infolge des jahrelangen Aufenthalts im russischsprachigen Milieu und aufgrund des Fehlens der Motivation zum Benutzen der englischen Sprache, unterlagen die produktiven Fähigkeiten in der Muttersprache ebenfalls Veränderungen. In den Lehrbüchern, die Victor Herman in der UdSSR schuf, sind seine eigenen englischen Texte und Übersetzungen durch den Einfluss der russischen Interferenz gekennzeichnet, was in Syntax, Auswahl der lexikalischen Mittel und stilistischen Entscheidungen zu Tage tritt. Allerdings förderten nach Victor Hermans Rückkehr in die USA seine Arbeit an Büchern, Auftritte vor Publikum, Kontakt mit Landsleuten die Umformatierung und Entwicklung seiner englischen Sprachpersönlichkeit.

Der Begriff des Kulturschocks ist einer der grundlegenden in der Theorie der interkulturellen Kommunikation, welche den Kulturschock als besonderen psychologischen Zustand ansieht, der innerhalb des Akkulturationsprozesses unvermeidbar ist. Eines der Modelle des Kulturschocks, das kumulativen Charakter besitzt, das sogenannte U-Modell (Euphorie, Entfremdung, Eskalation, Unverständnis, Verständnis), kann für die Analyse und Rekonstruktion der beiden grundlegenden Zeiträume im Leben des Victor Herman in der UdSSR (von 1931 bis 1976) und in den USA (von 1976 bis 1985) verwendet werden.

In der Sowjetperiode waren Symptome und Entwicklung des Kulturschocks nicht einförmig, denn Victor war gezwungen, sich unterschiedliche Kulturen und Subkulturen anzueignen. Beispielsweise befand sich Victor im Gefängnis, noch im Stadium der Ermittlungen, lange Zeit sowohl in einer Zelle für Politische, als auch in einer Zelle mit Kriminellen. Das Erlernen und die Aneignung einiger Elemente der Subkulturen und Erzählformen der Kriminellen wurde für Victor in der Folgezeit zur wichtigen Strategie des Überlebens im GULAG.

Bedeutsam für Victors die innere Biografie war der Umgang mit politischen Gefangenen, Intelligenzlern, Parteimitgliedern, Vertretern verschiedener religiöser Konfessionen. Später, als er sich an ihre Unterhaltungen, Streitgespräche, improvisierten Vorlesungen erinnerte, schrieb Victor Herman: „Sie waren meine Lehrer und ich ihr Schüler, den es nach Wissen dürstete. Für sie war ich kein Ausländer, sondern genauso ein Russe, wie die meisten von ihnen“.

Nach zehn Lagerjahren, acht Jahren Verbannung, nach der Rehabilitierung im Jahre 1956 bleibt Victor Herman „Geisel“ des politischen Regimes. Er lässt die Hoffnung nicht sinken, irgendwann einmal in die Heimat zurückkehren zu können, wenngleich sein Leben jetzt bereits eng mit dem sowjetischen Russland verbunden ist: in Krasnojarsker Verbannung heiratete er eine russische Frau, sie bekommen zwei Töchter. Sobald sich die Möglichkeit ergab Sibirien zu verlassen, zieht Victor Herman mit seiner Familie nach Moldawien.

Die Kischinjowsker Zeit (1959-1976) war angehäuft mit Ereignissen sowohl der äußeren, als auch der inneren Biografie. Victor Herman realisiert die zuvor nicht geforderten Ressourcen seiner Persönlichkeit, indem er die Lebensfähigkeit seines schöpferischen Talents unter Beweis stellt. Nachdem er faktisch keine mittlere oder höhere Schulbildung erhalten hat, beginnt Victor Herman nach dem langjährigen Sklavendasein im Lager Englisch zu unterrichten, schreibt Bücher und befasst sich mit Übersetzungen, tritt an der Schule mit Gesprächen über Amerika, über die Tätigkeit seines Vaters und seiner kommunistischen Mitstreiter auf. Zur Erinnerung an den Vater, der 1953 starb und in Gorki begraben liegt, übergibt Victor Herman dem Museum der Geschichte der Kommunistischen Partei Dokumente aus dem Familien-Archiv.

Die interkulturelle Transformation der Persönlichkeit zeigt sich auch darin, welche eigentlichen Werte der „anderen“ Kultur lebensnah und bedeutsam werden, die Auswahl diktieren und Vorgehensweisen definieren. In den Berichten über Victor Herman gibt es Beispiele dafür, wie sich i seinem Verhalten russische (sowjetische) Wertvorstellungen verwirklichten: sowohl die langjährige Freundschaft, die noch im GULAG ihren Anfang nahm, als auch die Unterstützung, die man dem zu Unrecht verurteilten Mann furchtlos gewährte, und die Freigebigkeit gegenüber denen, deren materielle Möglichkeiten begrenzt waren.

Nachdem er nach Amerika zurückgekehrt ist, erfährt Victor den sogenannten umgekehrten Kultur-Schock, muss sich nach 45 Jahren wieder ganz neu die heimische Kultur aneignen.
Gerade in der Zeit seines Lebens, in der Victor Herman inhaftiert ist, treten deutlich und bisweilen dramatisch die Folgen der interkulturellen Transformation der Persönlichkeit zu Tage. Da kommt im Wertsystem zum Ausdruck. Zum Beispiel unterscheiden sich solche Konzepte wie „Freundschaft“, „gegenseitige Hilfe“, „Reichtum“ im Weltbild und Alltag Victor Hermans von den amerikanischen Analogen.

Für Victor Hermans Identitätsstruktur ist während dieser Zeit die Dominanz der russischen (sowjetischen) Werte charakteristisch. Manche Praktiken im Benehmen der Landsleute, Menschen aus seinem neuen Kontakt-Umfeld fasst er kritisch auf. Er empfindet diese Unstimmigkeit und spricht mehrfach über eine mögliche Rückkehr in die Sowjetunion.

Die folgende Äußerungen Viktor Germans sind charakteristisch für die Entfremdungs- und die Eskalationsphase des umgekehrten Kulturschocks: „Geld verwandelt die Menschen in Geizkragen. Einige meiner alten Freunde sind sehr vermögende Leute geworden, aber es scheint, als ob sie ihre menschlichen Eigenschaften verloren haben. In aller Ruhe verspielen sie tausende Dollar in Las Vegas, aber mein Leben und das Leben meiner Kinder kümmert sie nicht“; „Ich hatte von Amerika mehr gedacht, als Amerika von mir“; „Wie bitter das ist… Ich bin in mein heimatliches Amerika zurückgekehrt, kann aber keine Arbeit finden – egal welche, und wenn es auch nur als Übersetzer oder Lehrer wäre“.

Nachdem das Buch „Coming out of the Ice“ (Aus dem Eis“) veröffentlicht ist, tritt Victor Herman mit öffentlichen Vorlesungen über die Sowjetunion in Erscheinung. Außerdem schreibt er und bringt selbständig ein Buch über den für Henry Ford so profitablen Geschäftsvertrag mit der Sowjetregierung und das Schicksal der Amerikaner heraus, die in der Automobilfabrik der Stadt Gorki arbeiteten. Sein drittes Buch schreibt Herman gemeinsam mit Professor Fred Dorse, einem Fachmann für die UdSSR und die Länder Ost-Europas.

Wichtig für die interkulturelle Transformation der Persönlichkeit, Victors Re-Amerikanisierung, war der Gerichtsprozess „Victor Hermann gegen die Ford Motor Company“. Die gerichtliche Klage wurde am 16. Juni 1978 eingereicht, der endgültige Beschluss der Schiedskommission wurde am 30. April 1985 verhängt (einen Monat nach dem Tode des Klägers).

Die Klage wurde in Anwesenheit des jungen Advokaten Robert Grinstein eingereicht, der Victor Herman in der zeitgenössischen amerikanischen Kultur zum Freund, Ratgeber und einzigartigem Reiseführer wurde.

Nachdem der ihm verursachte Schaden auf eine Summe von 10 Millionen Dollar veranschlagt worden war, verklagte Victor Herman die „Ford Motor Company“, weil sie sie ihm, nach Ablauf des Vertrages, nicht dabei behilflich gewesen war, die Sowjetunion zu verlassen, in der sein Leben Gefahren ausgesetzt war. Der erfahrene Advokat Robert Golden, der Victor Herman vor Gericht vertrat, hielt diesen Prozess für einzigartig. Zum ersten Mal war gegen die „Ford Motor Company“ im Zusammenhang mit russischen Verträgen des Henry Ford und der sozialen Verantwortung der Firma in internationalem Maßstab geklagt worden. Die beklagte Firma verneinte ihre Beteiligung am Schicksal Victor Hermans und machte sich unter anderem das Argument der Verjährung zunutze, was als Grundlage für zahlreiche Gesuche und Appellationen diente.

Im Rechenschaftsbericht der Sonder-Schiedskommission, in der drei Richter saßen, hieß es: „Wir kommen zu dem Schluss, dass dem Kläger eine gewisse Entschädigung zusteht, und wir veranschlagen die an den Kläger seitens der Beklagten zu zahlende Summe auf 75.000 Dollar. Da der Kläger verstorben ist, hat die Auszahlung an seine Erben zu erfolgen“.

In der persönlichen Geschichte Victor Hermans spiegeln sich dramatische Paradoxe und tragische Gesetzmäßigkeiten der großen Geschichte wider. Sein Leben beeindruckt nicht nur durch seine „steile Marschroute“. Das Schaffenspotential und das Talent des „russischen“ Amerikaners haben sich verwirklicht – entgegen aller objektiven Umstände. Eine derartige Erfahrung der Souveränität eines Menschen im Weltraum zweier nationaler Kulturen – das ist ein Objekt der Forschung, das historisch und moralisch nicht aus der Mode gekommen ist.


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