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Momente der Geschichte . Materialsammlung zum Thema „Politische Repressionen in der UdSSR“ (1989-2009)

I.N. Moisejewa. Zur Frage der Deportation der Wolgadeutschen in den Jenisejsker Bezirk (1941)

Im Herbst 1941 nahm der Jenisejsker Bezirk, ebenso wie andere Territorien in der Region Krasnojarsk, gezwungenermaßen Umsiedler auf – Deutsche, die von der Wolga deportiert worden waren. Wenn man die Listen der Umsiedlerfamilien nach den einzelnen Dorfräten analysiert, stellt man fest, dass 214 Familien, insgesamt 970 Personen, in den Jenisejsker Bezirk ausgesiedelt wurden, von denen faktisch 967 an Ort und Stelle eintrafen sind (3 verstarben während der Fahrt hierher).

Die Bevölkerung der Wolgarepublik wurde in folgenden Ortschaften angesiedelt:

  1. In die Ust-Tungussker Kolchose gerieten ausschließlich Bewohner aus dem Dorf Fajerskij, Bezirk Kamenka, Gebiet Saratow;
  2. In die Potopowsker, Prutowsker, Jerkalowsker, Jalansker, Abalakowsker Kolchosen sowie  nach Maslennikowo (Kolchose „Erinnerung an Lenin“), Marilowzowo, Baschenowo,  Anziferowo, Gorskaja (Stalin-Kolchose), Tscherkasy (Stalin-Kolchose), Malo-Beloje (Kujbyschew-Kolchose) wurden ausschließlich Bewohner eines einzigen Dorfes deportiert – aus Grimm, Bezirk Kamenka, Gebiet Saratow.
  3. In Ust-Kem trafen ehemaliger Bewohner zweier Ortschaften ein: der Stadt Saratow und des Dorfes Kamenka im Bezirk Kamenka sowie ein einziger Einwohner aus Leningrad. Außerdem wurde die Stadtbevölkerung der deutschen Wolgaregion aus den Städten Engels und Saratow in die Woroschilow-Kolchose (Opogodajewsker Dorfrat) verschleppt.
  4. Die Bewohner des Bezirks Kamenka (Dörfer Grimm und Kamenka) wurden zum Pogodajewsker Dorfrat verschickt.
  5. Die Kolchose „Roter Oktober“ (Dorf Gorodischtsche) nahm bei sich ehemalige Bewohner der Bezirke Chwalinsk, Seelmann und Kamenka (Stadt Chwalinsk, Dörfer Seelmann und Grimm) auf. Bei der Verteilung der Deportierten auf die einzelnen Dörfer gab es vermutlich kein festgelegtes System, denn auf einer Seite befindet sich außer dem Nachnamen die Waggonnummer – und die ist für die gesamte Liste die gleiche. An den Ort ihrer Zwangsansiedlung kamen die Deportierten in den meisten Fällen in einer kompakten Gruppe (in der gleichen Zusammenstellung, wie man sie aus ihrem ursprünglichen Wohnort abtransportiert hatte).

Wurden Deutsche auch in die nördlichen Territorien des Jenisejsker Bezirks – nach Kolmogorowo, Nasimowo, Jarzewo, Ponomarjowo, Nikulino – verschleppt? Angaben über
diese Ortschaften liegen dem Archiv in Jenisejsk nicht vor, und dies wohl in erster Linie deswegen, weil sie bis 1957 zum Bezirk Jarzewo gehörten.

Jedoch lassen die kürzlich geführten Interviews, welche wir im Verlauf unserer Forschungsarbeit zur Geschichte des Alltagslebens in den 1930er bis 1950er Jahren in diesen Siedlungspunkten geführten haben, zumindest einige Verallgemeinerungen zu.

In den Jahren 1942 und 1943 wurden Wolgadeutsche, die 1941 in die südlichen und zentralen Bezirke (Minusinskij, Karatusskij, Nischneingaschskij, Beresoskij, Kuraginskij) der Region Krasnojarsk deportiert worden waren, zum zweiten Mal der Deportation ausgesetzt - diesmal in den Bezirk Jarzewo (derzeit gehören diese Territorien zum nördlichen Verbund des Jenisejsker Bezirks), und zwar in die Dörfer Nasimowo, Fomka, Kolmogorowo, Ponomarjowo, Nikulino. Ihre zahlenmäßige Zusammensetzung läßt es zu, hier tendenziell von einer zweiten Umsiedlung zu sprechen. Ähnliche Fakten ließen sich auch innerhalb der nördlichen Territorien während der Umsiedlung (21 Personen) in vergleichsweise unweit voneinander entfernt liegende Siedlungen beobachten: Tamarowo, Kulisa, Fomka – Nasimowo, Jarzewo. Die Geografie der Umsiedlung aus der Wolgaregion ist sehr vielfältig: Bauer, Warenburg, Unterwalden; die Städte Marx(stadt), Engels, Saratow. Die territorial bedingten Gemeinsamkeiten der Deportierten, wie wir es in einer Reihe von Dörfern im Jenisejsker Bezirk beobachten können, wurden nicht bewahrt.

Unter den 967 eingetroffenen Deutschen befanden sich 496 Arbeitsfähige, darunter 251 Frauen und 245 Männer. Die verbleibenden 484 Personen waren Kinder und Minderjährige bis 16 Jahre. Die soziale Herkunft der Deportierten sah folgendermaßen aus:

- Kolchosbauern: 71 Familien
- Arbeiter: 90 Familien
- Beamte: 53 Familien

Die am meisten verbreiteten Berufe unter den deutschen Umsiedlern, die in den Jenisejsker Bezirk gerieten, nämlich Traktorist, Mähdrescherfahrer, Fahrer –wiesen darauf hin, dass der überwiegende Teil dieses „Sonderkontingents“ aus Menschen bestand, die vomLande kamen.

Tabelle 1. Berufsgruppen der deutschen Umsiedler aus den Wolgagebieten (1941)*

Beruf Anzahl d. Personen
Traktoristen (Frauen) 25(1)
Mähdrescherfahrer (Frauen) 10(2)
Fahrerinnen 22(2)
Automechaniker 2
Schmiede 5
Drechsler 10
Schlosser 8
Maschinisten 5
Motoristen 1
Lehrer 13
Rechnungsführer/Buchhalter 15
Ärzte 2
Agronomen 1
Zootechniker 1
Tierarzthelfer 1

* Aufgestellt anhand des Jahres:

In den Deportiertenlisten finden sich auch Berufe wie beispielsweise Ermittlungsrichter bei der Staatsanwaltschaft, Leiter der Bezirksfinanzverwaltung (verschickt in das Dorf Jerkalowo), Tiermediziner, Vorsitzender der Schneidergenossenschaft (geschickt in das Dorf Pogodajewo), Laborant am Medizinischen Institut, Milizionär, Weber (angesiedelt in der Siedlung Jalan).

Die Deutschen nahmen praktisch unmittelbar nach Ankunft in den ihnen zugewiesenen Siedlungsbezirken ihre Arbeit auf. Für die Unterbringung der Deutschen an den verschiedenen Arbeitsplätzen wurde eigens eine differenzierte Vorgehensweise angewandt. Es war Vorschrift, Leute aus landwirtschaftlichen Berufen in den Kolchosen, den landwirtschaftlichen Genossenschaften des jeweiligen Bezirks, der Maschinen- und Traktoren-Station und der regionalen Grund- und Boden-Abteilung einzusetzen. Am leichtesten bekamen Menschen aus den Berufen Buchhalter und Rechnungsführer Arbeit, welche gerade in den ländlichen gegenden dringend benötigt wurden. Hier konnten die Umsiedler ohne jegliche Einschränkungen leben (Genossenschaften, Produktionskooperativen, Beschaffungskontore, Dorfkonsumgenossenschaft u.a.). Auch ein Teil der medizinischen Berufsgruppen wurde entsprechend ihren beruflichen Fähigkeiten eingesetzt. So fand beispielsweise Andrej Samuilowitsch Ziklers Mutter nach einiger Zeit Arbeit als Hebamme und Krankenschwester (Verbannungs- / Lagerhaftbericht von A.S. Zikler). Bei der Arbeitssuche von Sonderumsiedlern, die ursprüngliche aus dörflichen Gegenden kamen, gab es auch deswegen keine Probleme, weil, aufgrund der Mobilisierung der männlichen Bevölkerung in die Rote Armee, in der Landwirtschaft eine gravierender Mangel an Arbeitskräften herrschte. Die Schwierigkeiten bei der Arbeitsunterbringung von „Ingenieuren, Technikern, Professoren und Unterrichtspersonal“ standen im Zusammenhang mit dem Verbot, dass deutsche Umsiedler in Städten mit sich entwickelnder Industrie nicht gemeldet sein durften, obgleich eine große Nachfrage nach diesen Berufsgruppen herrschte. Ungeachtet des Bedarfs an den genannten Berufen, wurden die betreffenden Personen bei allgemeinen, ungelernten Arbeiten eingesetzt. So verschaffte man zum Beispiel in der Kolchose „Iljitschs Vermächtnis“ im Jenisejsker Bezirk dem Deutschen I.K. Zikler, der über eine höhere landwirtschaftliche Ausbildung verfügte, eine Stelle als ungelernter Arbeiter. In der Jarzewsker Waldwirtschaft arbeitete A.A. Galuschka als Holzfäller, obwohl er eine mittlere Ausbildung als Zootechniker gemacht hatte und bereits über sieben Jahre Berufserfahrung verfügte; M.A. Majasin – Zootechniker von Beruf, aber er arbeitete als Holzfäller. In der „Gorkij“-Kolchose war der Agronom F.I. Maier als Registrator tätig.

Insgesamt wurde die Arbeitskraft der Deportierten in der sibirischen Region in breitem Umfang in den Kolchosen und Sowchosen, beim Fischfang, beim Eisenbahnlinien- und Wegebau eingesetzt. Der Rechtsstatus der deutschen Aussiedler, deren Bewegungsfreiheit erheblich eingeschränkt war, gestattete es ihnen nicht, ihr Recht auf Arbeit in vollem Umfang zu realisieren.

Es wurden auch Fälle der Diskriminierung von Deutschen an den neuen Arbeitsplätzen beobachtet. Trotz der Errungengenschaften, welche die Deutschen im Rahmen ihrer Arbeit machten, enthielt man ihnen jegliche Prämien für die Übererfüllung der Arbeitsnormen vor (J.G. Adolf, M.F. Buchgamer, S.N. Tschaadajewa, F.K. Engelhard), verweigerte ihnen das Recht, in den Kolchosvorstand und die Revisionskommission gewählt zu werden. Aber es kam auch vor, dass die Verfolgten zu Brigadeführern ernannt wurden. So arbeitete beispielsweise Jakob Karlowitsch Stol viele Jahre als Brigadier in der Ortschaft Ust-Kem; Dorfältester war dort der Deportierte Abich.

Für den Jenisejsker Bezirk war die Arbeit der Deportierten von großer Bedeutung, denn in den Jahren des Krieges stellte der Mangel an arbeitsfähigen Männern ein riesiges Problem dar, und die deportierten Staatsbürger glichen dieses Manko teilweise dadurch aus, dass sie in der Landwirtschaft des Bezirks, bei der Holzbeschaffung und beim gewerblichen Fischfang eingesetzt wurden.

Trotz detaillierter Planung führte die praktisch gleichzeitig erfolgende Ankunft einer derart großen Masse Menschen zu einer jähen Verschärfung der wirtschaftlichen Situation an den Ankunftsorten – so fehlte es beispielsweise in erschreckendem Maße an separaten Unterkünften; nicht entschieden waren, mit wenigen Ausnahmen, auch nicht die Fragen nach einer geeigneten Kompensation für den in der Heimat zurückgelassenen Besitz, die Zurverfügungstellung der allernötigsten Gebrauchsgegenstände für den Alltag und die Versorgung mit Lebensmitteln.

Unter den Bedingungen eines totalen Staates, verschaffte die Sondersiedlung dem Staat ein riesige Arbeitskraft-Ressourcen, förderte die Urbarmachung wenig bevölkerter Ländereien und ermöglichte einen zeitlichen Aufschub der Entscheidung über die nationale Frage. Aber die Verluste, die der Staat dabei machte, waren viel größer, als sein Gewinn: gemeint sind die demografischen, intellektuellen und Arbeitskräfte-Verluste.

Literatur:

1. Jenisejsker Staatsarchiv. „Liste der umgesiedelten Familien“, Fond R2, Verz. 2, Akte 44, 1941
2. Wirtschaftsbuch der wesentlichen Produktionsergebnisse der Kolchosen im Prutowsker Dorfrat (1941-1945), Jenisejsker Staatsarchiv, Fond R4, Verz. 3, Akte 19
3. W.S. Birger. Zusammenfassung über die Verbanntenströme und Verbannungsorte in der Region Krasnojarsk und der Republik Chakassien, Buch der Erinnerung an die Opfer politischer Repressionen in der Region Krasnojarsk, Band 1., Krasnojarsk, „Verlagsprojekte“, 2004, S. 502.
4. L.I. Oberderfer. Deportierte Deutsche in West-Sibirien (1941-1945). Realität und Rechtsstatus. Sibirien 17.- 20. Jahrh., Nowosibirsk, 2002, S. 257.
5. K.A. Gorbatschow. Archiv-Dokumente über deutsche Umsiedler in der Region rasnojarsk (1941-1958). Thesen aus Voträgen der wissenschaftlich-praktischen Konferenz. – Krasnojarsk, 1995, S. 45.


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