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Momente der Geschichte. Sammelwerk von Materialien zum Thema „Politische Repressionen in der UdSSR“ (1989-2009)

T.M. Bernjatzkaja. „Eine ferne Gegend ist nicht die Heimat“. Die Familie Schenberg (Schönberg?)

Das Leben und Schicksal einer Familie gestaltet sich auf unterschiedliche Weise. Viele tragische Seiten gibt es, über die man keineswegs schweigen darf. Zahlreiche Familien gelangten nicht aufgrund ihres eigenen Willens nach Krasnoturansk, aber Krasnoturansk wurde zu ihrem Schicksal, ihrer Heimat, denn etwas anderes war ihnen nicht vergönnt ...

Einer dieser Familien waren die Schenbergs. Emmanuel Karlowitsch und Frieda Josifowna, gebürtig aus dem Bezirk Gmelin, Gebiet Saratow. Ihre Kindheit verbrachten sie an der Wolga.

Emmanuel wurde 1915 geboren. Sein Großvater väterlicherseits war Jurist, der Großvater der Mutter, Friedrich Aichmann war von Beruf Gärtner. Im Garten des Großvaters gab es viele Obstbäume. Sämtliche Einwohner der Ortschaft Kano aßen die Früchte aus diesem Garten. Und er bewirtschaftete auch erfolgreich seinen kleinen Hof: er besaß Pferde, Kühe, Schafe. Aber der bekannte Zeitabschnitt der Geschichte, um den es hier geht, nahm der Familie alles – die Pferde wurden konfisziert, der Garten abgeholzt, beide Familien wurden entkulakisiert und in den Norden verschleppt, wo sie bald darauf starben. Emmanuels Vater, Karl Alexandrowitsch Schenberg, wurde nicht enteignet, denn er wohnte mit seiner Familie separat. Er arbeitete als Hauptbuchhalter in der Kolchose. In seiner Familie gab es fünf Kinder, deren Erziehung von der Mutter zum Aufgabenbereich der Mutter gehörte. Zu konfiszieren gab es nichts. Aber das Unglück ließ nicht lange auf sich warten; 1937 wurde K.A. Schönberg Opfer von Verfolgungen und von einer NKWD-Trojka zum Tod durch Erschießen verurteilt. Das Urteil wurde im Dezember 1937 vollstreckt. Später wurde K.A. Schönberg posthum rehabilitiert.

Emmanuel war der Älteste in der Familie, er mußte ab seinem 14. Lebensjahr arbeiten. Der Junge mußte sich um die beschlagnahmten Pferde kümmern. Sie mußten gefüttert werden, aber es gab kein Futter. Die hungrigen und durstigen Pferde wollten nach draußen. Mit diesen verhungerten Tieren mußten sie dann das Feld pflügen; bei den entkräfteten, unterernährten Pferden setzte das große Sterben ein. Vieles ist in der Erinnerung der Menschen geblieben, aber man kann nicht alles davon erzählen. Es war ein schweres Leben. 1938 heiratete er Frieda Josifiwna Geft (Heft?). Sie stammte aus einer armen Familie, der Vater war früh verstorben, die Mutter mit vier Kindern allein zurückgeblieben; Frieda war die Älteste. Mit 16 Jahren arbeitete sie als Traktoristin. Emmanuel brachte sie in die Familie seiner Mutter mit, die aus 6 Personen bestand. Die jungen Leute wollten unter allen Umständen leben, und so beschlossen sie auszuziehen, um ihr eigenes Leben zu führen. Mit ihrer Hände Arbeit stellten sie Lehmziegel her und mauerten sich ein Haus zusammen. Emmanuel war ein großer Meister in der Verarbeitung von Holz. Und nicht nur das – es war ganz egal, was er in die Hand nahm – alles gelang ihm einwandfrei. Freunde halfen ihnen das Haus zu verputzen, aber es gab weder Geld noch Lebensmittel, um die Menschen mit Essen zu versorgen. Emmanuel begab sich ins Kontor, bat um einen Laib Brot, und den teilten sie dann untereinander auf.

1940 lebte die Familie bereits in ihrem eigenen Haus, zwei Kinder waren inzwischen geboren: ein Sohn und eine Tochter, aber die Tochter starb im Alter von 6 Monaten. Die Ernte fiel in dem Jahr nicht schlecht aus. Für die geleisteten Tagesarbeitseinheiten wurde Getreide ausgegeben, sie konnten sich wieder sattessen, sich ein Huhn, ein Kälbchen und ein Ferkelchen anschaffen. Bald darauf wurde eine weitere Tochter geboren. 1941 war die Ernte so gut wie nie zuvor, die Männer waren alle mit den Erntearbeiten beschäftigt; es gab dermaßen viel Getreide, dass sie es nicht alles abtransportieren konnten, sondern schließlich einfach auf dem Feld zusammenschütteten.

Aber es kam nicht mehr dazu, dass sie von dieser neuen Ernte irgendetwas essen konnten. 1941. Kriegsausbruch. Am 28. August wurde der Ukas „Über die Umsiedlung aller in den Wolgagebieten lebenden Deutschen“ verabschiedet. Der Ukas sah vor, dass die gesamte deutsche Bevölkerung aus den Wolgabezirken in andere Rayons des Landes umgesiedelt werden sollte. Für die Sowjetdeutschen wurde das zum Drama.

Karl Karlowitsch, Emmanuels Bruder, war vor dem Krieg in die Armee einberufen worden; als der Krieg ausbruch, kam er an die Front. In einem der Kämpfe wurde er schwer verwundet und in ein Lazarett gebracht. Anschließend gab man ihm Heimaturlaub bis zur vollständigen Genesung. Am 5. September 1941 brachte er eine Zeitung mit und las daraus vom Ukas über die Deportation der Deutschen vor, aber niemand glaubte ihm, niemand wollte wahrhaben, dass so etwas möglich sein könnte. Aber dann traf der Vorsitzende der Behörde ein und befahl ihnen sich im Laufe der Nacht für die Abfahrt vorzubereiten. Nur das Allernötigste durften sie mitnehmen.

Am nächsten Morgen wurden die Menschen mit Fuhrwerken zur Bahnstation gebracht. Nach dem sie all ihr Hab und Gut zurückgelassen hatten, mußte auch die Femioie Schenberg mit ihren kleinen Kindern an der Hand einen weiten Weg antreten. Die Fahrt dauerte 16 Tage und Nächte. Sie wurden in Güterwaggons transportiert, sie besaßen kein Geld,um sich etwas zu essen zu kaufen. Sie ernährten sich hauptsächlich von getrocknetem Brot und Wasser. Krankheiten brachen aus. Die Menschen starben; ihre Leichen wurden einfach während der Fahrt aus den Waggons geworfen.

Schließlich kamen sie in Sibirien an. Die Familie Schenberg wurde nach Krasnoturansk geschickt. Die Ortsansässigen begegneten den Deutschen auf unterschiedliche Weise: die einen hatten Verständnis, andere zeigten sich feindlich, manche halfen, manche versuchten ihnen Schaden zuzufügen. Neue Schwierigkeiten begannen: die Unkenntnis der Sprache, das Fehlen von Wohnraum. In einem Haus wohnten mehrere Familien. Nach und nach begannen die Menschen sich aneinander zu gewöhnen und die Sprache zu verstehen. Emmanuel arbeitete als Tischler in der Werkstatt des Industriekombinats, er war geschickt und schnell, fan dsich in seinem Beruf mit jeder der gestellten Aufgaben problemlos zurecht. Sie stellten Skier, Räder, Schlitten, Leiterwagen usw. für die Front her. Ende 1941 starb das Töchterchen und bald darauf auch der Sohn.

Anfang 1942 fingen sie damit an, die Deutschen in die Trudarmee zu mobilisieren, und da es nun in der Familie keine Kinder mehr gab, holten sie Frieda im Herbst in die Arbeitsarmee, ungeachtet der Tatsache, dass sie ein Kind erwartete. Es war November, die Menschen wurden zufuß bis ins Städtchen getrieben. Am Ufer, unterhalb einer Schlucht, mußten sie übernachten. Am nächsten Morgen gingen sie weiter. Sie schickten die Menschen nach Baschkirien, nach Ischimbaj. In Friedas Erinnerung ist das Lager geblieben, das mit Stacheldraht umgeben und von Wachen umstellt war. Die Bedingungen, unter denen die Trudarmisten leben und arbeiten mußten, unterschieden sich in nichts von den Lebensbedingungen der inhaftierten Kriminellen. Mehrere Kilometer weit wurden sie zur Arbeit getrieben, bei jedem Wetter und stets unter Wachbegleitung, die den Befehl hatte, beim geringsten Verdacht, sofort zu schießen. Die Menschen starben vor Hunger, Kälte und an Krankheiten. Die noch halb lebenden und die bereits Toten wurden zusammen in eine Scheune getragen; immer Winter fanden keine Beerdigungen statt; im Frühjahr wurden dann alle Leichen in eine große Grube geworfen. Frieda hatte das Glück lebend nach Hause zurückkehren zu können. Sie war fast blind – vor Erschöpfung hatte sie die Nachtblindheit erfaßt. Aus Abakan gelangte sie mit Müh und Not zufuß zurück, unterwegs fand sich jemand, der sich erbarmte und sie auf dem Leiterwagen bis zum Flußübergang mitnahm. Nachdem sie den Fluß überquert hatte, ging sie erneut zufuß; wenige Kilometer von zu Hause entfernt war eine gute Frau ihr behilflich. Sie lieferte sie in der Nacht zuhause ab, und am Morgen des 28. Juni 1943 kam ihre Tochter zur Welt.

Die gesamte deutsche Bevölkerung, die nicht in die Arbeitsarmee geholt worden war, mußte sich jeden Monat einmal persönlich in der Sonderkommandantur melden und registrieren lassen. Emmanuel war in seiner Kindheit an Typhus erkrankt; er hatte aufgrund von Komplikationen sein Gehör verloren. Trotzdem mußte auch er einmal monatlich zur Kommandantur. Da man ihm nicht glauben wollte, dass er kein Gehör mehr besaß, setzte man ihn verschiedenen Zerreißproben aus. Er war ein aufrechter und gutmütiger Mensch, der es bis an sein Lebensende nicht gelernt hatte, falsches Spiel mit anderen zu treiben oder andere zu betrügen. Nachdem er viele Schicksalsprüfungen durchgemacht hatte, wurde er trotzdem für tauglich befunden in der Trudarmee zu arbeiten. Aber es gelang dem Direktor des örtlichen Industriekombinats Noschow ich doch noch davor zu bewahren.

In der Tischlerwerkstatt arbeiteten nur Minderjährige im Alter von 15-16 Jahren. Sie stellten Dinge für die Front her, erfüllten Großaufträge. Emmanuel Schenberg war der einzige Meister in der Tischlerwerkstatt. 1949 erledigte er in einem Monat gleich mehrere Großaufträge. Man sagte von ihm, dass er goldenen Hände hätte. Nach dem Krieg kamen andere Bedürfnisse auf – die Menschen fanden sich zurecht, lebten sich ein, fingen an, sich Möbel anzuschaffen, und Emmanuel führte die wichtigsten Bestellungen aus. Was die Schnelligkeit der Arbeitund die Qualität der fertiggestellten Produkte betraf, konnte niemand mit ihm mithalten. Stets hing sein Protrait an der Ehrentafel, aber wen die Medaillen verliehen wurden, dann war er aufgrund seiner Nationalität nie dabei.

Die Schenbergs lebten einträchtig miteinander. Alles standen sie durch – Hunger und Kälte, Krieg und Verfall, Repressionen und Trudarmee – nie verloren sie den Mut. Nach dem Krieg zogen sie zu den Verwandten um – einer aus 8 Personen betshenden Familie. Alle wohnten zusammen in einem nicht sehr großen haus, in dem es nur ein einziges Zimmer gab. Trotz aller Schwierigkeiten war diese Familie fröhlich und gesellig. Immer hatten sie viele Gäste, die Hausherrin war eine angenehme Gesprächspartnerin; sie verstand es bei Kummer zu trösten, mit Ratschlägen zu helfen, und wenn es irgend ging gewährte sie auch materielle Hilfe. Mn kam gern zu ihr, um sich anzuvertrauen. Sie half allen so gut es ging – Nachbarn, Verwandten, Nahestehenden und entfernt Bekannten. Die Schenbergs zeigten sich allen gegenüber fürsorglich: gegenüber Kranken und Schwachen, Familienangehörigen und einfachen Bekannten. Das waren Leute mit einem weit geöffneten Herzen, es gab für alle Platz darin.

Aber das Schicksal bestrafte sie schrecklich: früh waren beide Söhne, Fjodor (22) und Roman (30) aus dem Leben geschieden. Ein solcher Schicksalsschlag zerrte heftig an der Gesundheit. Trotz des schwierigen Lebens hatten sie bis zum Ende ihres Lebens stets ein Herz für andere, blieben immer bescheiden, gut und aufrichtig. Den Fleiß, der ihnen innewohnte, übertrugen sie an ihre Kinder, Enkel und Urenkel.

Tochter Klara Michajlowna Wolf lebt immer noch in Krasnoturansk. Hier leben auch ihre Kinder Konstantin und Olga.

Der Artikel wurde auf Grundlage von Materialien des Familienarchivs von Klara Michajlowna Wolf verfaßt.


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