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Die Deutschen in der Region Krasnojarsk 1950 - Anfang der 1970er Jahre: Migrationsprozesse

In den vergangenen Jahren wurde dem Studium der Probleme um die nationalen Deportationen in der UdSSR große Aufmerksamkeit gewidmet. Die Zwangsumsiedlungen der 1930er bis 1950er Jahre veränderten für lange Zeit das Leben nicht nur einzelner Menschen, sondern auch ganzer Völker, und die Folgen der ethnischen Verbannung sind bis zum heutigen Tag noch nicht überwunden. In diesem Zusammengang scheint die Erforschung der Geschichte der „bestraften Völker“ nach ihrer Rehabilitation äußerst aktuell zu sein. Der Prozeß der gesellschaftlich-politischen Rehabilitation war langwierig für alle repressierten Völker, darunter auch die Rußland-Deutschen.

Als eine der Folgen der Liquidation des Zwangsansiedlungsregimes erwies sich die Migrationsaktivität der ehemaligen Deportierten. Zum ersten Mal seit vielen Jahren waren ihre Verlagerungen nicht erzwungen, sondern freiwillig. Ende der 1950er Jahre bekamen viele der repressierten Völker das Recht, in ihre früheren Siedlungsorte zurückzukehren. Den Sowjet-Deutschen war diese Möglichkeit entzogen worden. Entsprechend dem Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 13. Dezember 1955 über den Wegfall der rechtlichen Beschränkungen für Deutsche und ihre Familienmitglieder, durften sie nicht in ihre ehemaligen Wohngebiete an der Wolga zurückkehren. Die Rehabilitierung der Deutschen lief auf eine politische Rehabilitation hinaus, aber auf diese Weise kam man bei der administrativ-staatlichen und territorialen nicht voran. Den deutschen Familien war es vorherbestimmt, ihr weiteres Leben außerhalb ihrer historischen Heimat einzurichten. In dem Bemühen, eine Zusammenführung mit ihren Verwandten zu erreichen, verließ ein Teil der Deutschen die Region Krasnojarsk und fuhr in den Norden Kasachstans sowie nach West-Sibirien; die meisten blieben jedoch auf dem Territorium der Region. Eine der bezeichnenden Charakteristiken des deutschen Ethnos im Gebiet Krasnojarsk in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre bis zum Anfang der 1970er Jahre war eine hinreichend aktive, innere Migration. Begünstigt wurde dies durch den bestehenden Unterschied in den klimatischen Bedingungen der nördlichen und südlichen Gebiete der Region.

Leider berücksichtigten die regionalen Organe für statistische Erhebungen bis 1960 nicht die Bevölkerungsverschiebungen in den ländlichen Gebieten sowie die nationale Zusammensetzung der Migranten. Aber die vorliegenden indirekten Anzeichen geben Zeugnis davon, daß aktive territoriale Verschiebungen der ehemaligen Sonderumsiedler stattfanden. Große Veränderungen in der Zahl der Deutschen innerhalb der Region wurden von uns zum Beispiel auf der Halbinsel Tajmyr und in Chakassien festgestellt, dank des Materials, das aus den gesamtrussischen Volkszählungen der Jahre 1959 und 1970 vorliegt. Daraus ergibt sich eine Migrationsaktivität unter den dort lebenden Deutschen. Angaben der GUWD in der Region Krasnojarsk zufolge, lebten 1951, kurz vor der Rehabilitierung, gerade in diesen beiden Gebieten der Region die meisten deutschen Sonderumsiedler – 2648 auf der Halbinsel Tajmyr und 6825 in Chakassien.

Bekannt ist, daß einige deutsche Familien anfingen, den Ort ihrer Zwangsansiedlung noch 1954-1955 zu verlassen, als ein Prozeß der allmählichen Liqidation des Sonderbesiedlungsregimes einsetzte. Dokumente der Gebietsarchive belegen, daß die Unternehmensleiter, Parteileute und Sowjet-Mitarbeiter sich ernsthaft Sorgen um die beginnende Verringerung von Arbeitskräften in der Produktion machten. Um den Verbleib der ehemaligen Zwangsumsiedler an ihren früheren Arbeitsplätzen zu gewährleisten, mußten unbedingt zusätzliche Maßnahmen ergriffen werden. So wurde in den langen Jahren der Existenz von Sonderansiedlungen dem entsprechenden Kontingent erstmals unverwandte Aufmerksamkeit gewidmet. In den Rechenschaftsberichten der Sonder-Kommissionen, welche die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Umsiedler überprüften, wird darauf hingewiesen, daß es für die Erhaltung solcher Arbeitskräfte im Produktionsbereich unbedingt erforderlich ist, ihre materielle Alltagssituation wesentlich zu verbessern und aktive Agitation durchzuführen. [Zentrum für die Verwahrung und das Studium von Dokumenten der neuzeitlichen Geschichte der Region Krasnojarsk, Fond 26, Verz. 29. Akte 4, Blatt 26.]

Im Norden gestaltete sich die Kaderfrage besonders problematisch. Insbesondere äußerte das Stadtkomitee der KPSS von Igarka ernsthafte Besorgnis im Zusammenhang mit der Abreise von Deutschen aus dem Bezirk, denn sie bildeten die Mehrheit der Arbeiter in den Fischfang-Kolchosen, die hier während des Krieges entstanden waren. Die Massenabreise ehemaliger Zwangsansiedler konnte zur Liquidation dieser Wirtschaften führen. Der Sekretär des örtlichen Stadtkomitees bat die Regionsbehörden, schnellstens Maßnahmen einzuleiten, um die Fischfang-Kolchosen zu unterstützen, deren Schulden auszubuchen und Darlehen für den Wohnungsbau zu vergeben. [Zentrum für die Verwahrung und das Studium von Dokumenten der neuzeitlichen Geschichte der Region Krasnojarsk, Fond 26, Verz. 29, Akte 4, Blatt 358]. Diesen Bitten wurde teilweise nachgekommen, aber die halbherzigen Entscheidungen der regionalen Behörden konnten den Wegfall, bzw. das Fehlen der langjährigen Sonderansiedlung und der Zwangsarbeit in der Fisch-Industrie nicht kompensieren. Das Abreisen der Deutschen setzte sich fort. Der zahlenmäßige Rückgang des Ethnos auf der Halbinsel Tajmyr ist in einer statistischen Erhebung des Jahres 1959 festgehalten. Darin heißt es, daß in dem Gebiet 1500 Deutsche lebten. Bis zum Jahre 1970 zählte man noch 942. [Staatliches Archiv der Region Krasnojarsk, Fond 1300, Verz. 5, Akte 2966, Blatt 14-15.]

Es ist bemerkenswert, daß die Abreise der Deutschen aus dem Norden nicht der allgemeinen Migrationsdynamik in der dieser Region und in diesem Zeitraum entsprach. Die aktive industrielle Erschließung der Tajmyr-Halbinsel in den 1950er bis 1970er Jahren, hohe Verdienstmöglichkeiten begünstigten den Zustrom russischer und ukrainischer Familien, was auch in der Volkszählung von 1970 festgehalten ist. Zahlenmäßig war die russische Bevölkerung im Nationalgebiet Tajmyr von 21 800 im Jahre 1959 auf 25 500 im Jahre 1970 angestiegen – und die ukrainische von 1 300 auf 1 800. [Staatliches Archiv der Region Krasnojarsk, Fond 1300, Verz.. 5, Akte 2966, Blatt 14-15.] Infolgedessen war für die meisten Deutschen die Erlösung von der Zwangsansiedlung im Norden wichtiger als die Möglichkeit, sich materielle Vorteile zu verschaffen.

Bei der Wahl des neuen Wohnortes spielte bei den Deutschen das Motiv der Wiederherstellung der durch die Deportationen auseinandergerissenen Familienbande eine große Rolle. Seit Beginn der 1950er Jahre hatten sie sich häufig mit der Bitte an die örtlichen

Kommandanturen gewandt, ihnen die Abreise zu den Verwandten zu erlauben, die sich in einem anderen Landkreis oder ganz außerhalb der Region befanden. Wie das Material an Personenakten der Zwangsumsiedler belegt, bekamen sie solche Genehmigungen nur selten.

Die Migration der Deutschen ab der zweiten Hälfte der 1950er Jahre in den Süden der Region, wo es in klimatischer Hinsicht günstiger war, standen in Zusammenhang mit der Suche nach annehmbaren Lebensbedingungen in Sibirien. So stieg die deutsche Bevölkerung Chakassiens von 6 900 im Jahre 1952 auf 10 500 im Jahre 1959 [Staatliches Archiv der Region Krasnojarsk, Fond 1300, Verz..5, Akte 2965, Blatt 14-19.] Es ist ganz offensichtlich, daß die Umsiedler einen Teil dieses Bevölkerungszuwachses sicherstellten. In den nachfolgenden Jahrzehnten blieb die Anzahl der deutschnationalen Gruppe in dem autonomem Gebiet praktisch unverändert und machte etwa 10 000 aus [Staatliches Archiv der Region Krasnojarsk, Fond 1300, Verz. 5, Akte 2965, Blatt 14-19.]

In den 1950er bis 1070er Jahren blieben die Deutschen Dorfbewohner. L.N. Slawina, die die Ergebnisse der demographischen und soziokulturellen Entwicklung der Deutschen unter den Bedingungen der Sonderansiedlung auf dem Territorium der Region Krasnojarsk ausgewertet hat, hebt den niedrigen Stand der Urbanisierung bei den hier vorgegebenen ethnischen Guppen hervor – 1959 lebten lediglich 21,6% von ihnen in Städten. [L.N. Slawina. Die Deutschen in der Region Krasnojarsk (einige zusammenfassende Ergebnisse der demographischen und soziokulturellen Entwicklung unter den Bedingungen der Sonder-ansiedlung // Die Deutschen Rußlands und der UdSSR (1940-1941) Materialien der internationalen wissenschaftlichen Konferenz – M., 2000. – S.505.] Dies hielt auch in den 1960er Jahren an. Gemäß der Volkszählung von 1970 lebten 63,7% der Deutschen in ländlichen Gebieten, die übrigen 36,3% in Städten. [Staatliches Archiv der Region Krasnojarsk, Fond 1300, Verz. 5, Akte 2962, Blatt 14-17.] In den südlichen Landkreisen der Region, insbesondere in Chakassien, hat sich der Anteil der deutschen Bauern nicht nur nicht verringert, sondern hat sogar zugenommen – von 67,0% auf 71,0%. [Staatliches Archiv der Region Krasnojarsk, Fond 1300, Verz. 5, Akte 2965, Blatt 14-19.] Auf diese Weise nahm der Anteil der deutschen Stadtbevölkerung in der Region in den ausgewerteten Jahrzehnten unwesentlich zu, und zwar ungeachtet der Tatsache, daß in dem betreffenden Zeitraum ein aktiver industrieller Erschließungsprozeß in der Region vor sich ging. Die allgemeine Migrationstendenz war rückläufig. Sie trat in den 1960er Jahren in Form eines schnellen Anstiegs der Stadtbewohner unter der russischen und ukrainischen Bevölkerung zutage. 1970 betrug ihre Zahl dementsprechend 63,6% und 77,3%. [Staatliches Archiv der Region Krasnojarsk, Fond 1300, Verz. 5, Akze 2965, Blatt 14-19.]

Also waren in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre alle repressierten Völker zu Migrationsaktivitäten verurteilt, aber sie zeigte bei den Sowjetdeutschen regionale Besonderheiten. Nach der Abschaffung des Regimes in den Sonderansiedlungen zeichnete sich eine deutliche Abnahme der deutschen ethnischen Gruppe in den nördlichen Landkreisen sowie ihr zahlenmäßiges Anwachsen im Süden der Region Krasnojarsk ab. Die Verlagerungen der Deutschen innerhalb des Territoriums der Region nahmen wenig Einfluß auf die Höhe ihrer Urbanisierung. Die meisten deutschen Familien lebten 1970 in ländlichen Gebieten.

J.L. Sberowskaja

„Menschen und Schicksale. 20. Jahrhundert“. Leitgedanken aus den Vorträgen und Mitteilungen der wissenschaftlichen Konferenz.

Krasnojarsk, 2003


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