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Zum Thema der Deportation der Sowjet-Deutschen

Mit Beginn des Großen Vaterländischen Krieges versuchte die sowjetische Leitung erneut, denn sie hatte dies bereits mehrfach getan, die Republik der Wolga-Deutschen und ihre deutsche Bevölkerung als Druckinstrument für die „Klassenbrüder“ in Deutschland und die Soldaten ihrer Okkupationsarmee auszunutzen. Die Wolga-Deutschen wurden in eine mächtige konterpropagandistische Gesellschaft hineingezogen, die allerdings aufgrund ihrer Primitivität und der für die UdSSR allgemein ungünstigen Lage der Dinge an den Fronten keine ernsthaften, gewichtigen Resultate brachte.

Der Zusammenbruch der propagandistischen Gesellschaft, in der die deutsche Autonomie als „Vitrine des Sozialismus“ benutzt wurde, die großen Mißerfolge an der Front, der Vormarsch der deutschen Truppen an die Wolga, aber auch die nach Moskau gelangten Informationen über „antisowjetische“, „vernichtende“, „faschistische“ Äußerungen einzelner Bürger der Autonomen Republik der Wolga-Deutschen bestimmten ihr weiteres Schicksal voraus. Die sowjetische Leitung verabschiedete den Beschluß über die Liquidierung der Republik und die Umsiedlung ihrer Bewohner deutscher Nationalität in die östlichen Landesbezirke.

Die Vorbereitung und Durchführung der Deportation der Wolga-Deutschen begannen auf Grundlage der Anordnung des Rates der Volkskommissare der UdSSR sowie des Zentralkomitees der Allrussischen Kommunistischen Partei (Bolschewiken) vom 12. und 26. August 1941; sie wurde ab Mitte August in aller Heimlichkeit in die Tat umgesetzt. Der traurig-berühmte Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941 war rückdatiert und dazu bestimmt, der illegalen Aktion der Ausweisung eines ganzen Volkes wenigstens einen halbwegs „gesetzlichen“ Charakter tzu verleihen.

Man muß anmerken, dass der Ukas sich auf alle Deutschen erstreckte, die in der Autonomen Republik der Wolga-Deutschen, in den Gebieten Saratow und Stalingrad (etwa 450.000) lebten. Für die verbleibenden Deutschen, die in anderen Regionen des europäischen Landesteils (in den Gebieten Leningrad, Kujbyschew, Kursk u.a., in den verschiedenen Republiken der UdSSR, in Großstädten) ansässig waren, kamen separate Anordnungen zur Anwendung.

Der Umsiedlungskampagne waren ausnahmslos alle Deutschen ausgesetzt, nicht nur Stadtbewohner, sondern auch Menschen, die in ländlichen Gebieten lebten, darunter auch Mitglieder der Allrussischen Kommunistischen Partei (Bolschewiken) und des Kommunistisch-Leninistischen Jugendverbandes. Die Leitung der Umsiedlung wurde dem NKWD der UdSSR übertragen. Die jeweils kompletten Kolchosen wurden in folgende Regionen und Gebiete umgesiedelt:

Region Krasnojarsk: 75.000 Personen
Altai-Gebiet: 95.000 Personen
Gebiet Omsk: 85.000 Personen
Gebiet Nowosibirsk: 100.000 Personen
Kasachische SSR: 125.000 Personen

Ebenfalls verabschiedet wurden Instruktionen für die Verlegung der Deutschen, die in der ASSR der Wolga-Deutschen sowie in den Gebieten Saratow und Stalingrad lebten. Für die Durchführung des „Sonder-Auftrags“ wurden operative und begleitende Truppen des NKWD herangezogen.

Von der Deportation war auch die Familie Schlundt betroffen, die in der Ortschaft Bauer, im Kanton Kamenka lebte. Das Familienoberhaupt, Filipp Schlundt, das den Posten des Vorsitzenden der Dorfkonsumgenossenschaft innehatte, wurde aufgrund der Anklage, er habe antisowjetische Agitation betrieben, im Jahre 1938 erschossen (1995 erhielt er posthum seine Rehabilitierung durch die Staatsanwaltschaft der Region Saratow). Er hinterließ seine Ehefrau Ewa-Elisabeth Adolfowna sowie fünf Kinder an deren Rockzipfeln: Ganna (Hanna), geb. 1926, Maria (geb. 1928), Jakob (geb. 1930), Amalia (geb. 1939) und Emma (geb. 1935).

„Wir hatten ein sehr schweres Leben, - erinnert sich Ganna (Hanna) Filippowna, - die häufige Dürre führte zu Hungersnöten. Aber trotzdem gingen die Kinder alle zur Schule. 1941 beendete ich die siebte Klasse und hatte in fast allen Fächern eine Fünf (dies entspricht nach deutschen Maßstäben der Schulnote „Eins“; Anm. d. Übers.). Unsere Familie wurde am 15. September 1941 verschleppt. Alles mußten wir zurücklassen: Haus, Hof und Vieh. Niemand gab irgendeine Erklärung ab; man verlud uns auf Güterwaggons und brachte uns fort. Wir nahmen nur das Allernotwendigste mit, u.a. ein paar Lebensmittel, die unterwegs schnell zur Neige gingen. Zu essen bekamen wir nur in größeren Städten – dannbrachten sie Suppe in Eimern. Es gab viele Kranke; es wurde gestorben und geboren – alles in den Waggons. Offensichtlich hatte man den Menschen auch schon von vornherein ihren jeweiligen Bestimmungsort zugewiesen. 11 Waggons wurden in Kasachstan vom Zug abgekoppelt , und wir erreichten nach weiteren acht Tagen die Stadt Abakan. Von dort wurden wir, insgesamt acht Familien, auf einen Lastkahn verladen und an der Anlegestelle „Sagotserno“ (Getreide-beschaffungsstelle; Anm. d. Übers.) wieder an Land gesetzt; dann schickten sie uns in das Dorf Dschirim des Schalabolimsker Dorfsowjets“.

Laut Anordnung des Rates der Volskommissare der UdSSR undd es Zentralkomitees der Allrussischen Kommunistischen Partei (Bolschewiken) vom 26. August 1941 war es den Umzusiedelnden gestattet, persönliche Gegenstände, kleineres landwirtschaftliches und alltägliches Haushaltsinventar sowie Lebensmittel mitzunehmen – insgesamt 1 Tonne pro Familie. Alles, was vorort zurückblieb – Wirtschaftsgebäude, Vieh, landwirtschaftliche Maschinen u.a. sollten, unter Angabe des Wertes, an eine Sonderkommission übergeben werden. Die zurückbleibenden Immobilien, Lebensmittelvorräte und Vieh, mit Ausnahme der Pferde, sollten später gegen Quittung zurückgegeben werden. Die Gebäude sollten sie am neuen Wohnort wiederbekommen, in dem man sie dort in fertige Häuser einziehen ließ oder ihnen das Material für den Neubau eines Hauses zur Verfügung stellte.

Aber all das war weit von der Realität entfernt. Sogar offizielle Dokumente bezeugen dies.

Auszug aus einem Schreiben des stellvertretenden Leiters der 12. Abteilung des NKWD-Gebietskomitees der UdSSR, des Genossen Gusew, vom 31. August 1941.

„...derzeit wird die Evakuierung der deutschen UdSSR-Bürger durchgeführt. Der Evakuierungsprozeß ist schlecht durchdacht. In einer ganzen Reihe von Bezirken herrscht eine vollkommen unnötige Eile. Den Evakuierten wird in der Regel nicht mitrgeteilt, wohin sie gebracht werden sollen, wie lange sie unterwegs sein werden, wie groß der mitzunehmende Lebensmittelvorrat sein muß. Demzufolge war die Mehrzahl der aus städtischen Einzugsbereichen abtransportierten Menschen bereits nach 2-3 Tagen ohne Nahrungsmittel, was eine große Unzufriedenheit auslöste. Bei Abfahrt der Züge wurde niemand dazu ernannt, die Aufsicht über den Zug zu führen...“ 2

Bei Ankunft der Umsiedler an ihren Bestimmungsorten wurden Kommissionen gebildet, welche notwendige Entscheidungen trafen.

Aus einem schriftlichen Bericht des Leiters der NKWD-Behörde für die Region Krasnojarsk, Major Semjonow, sowie Major Bytschkows an den Volkskommissar für innere Angelegenheiten der UdSSR W.W. Tschernyschew:

„Laut Befehl des Volkskommissars der UdSSR für innere Angelegenheiten der UdSSR vom 27.09.1941, unter dem Aktenzeichen N° 000158, wurden für die Region Krasnojarsk im Zusammenhang mit der Umsiedlung von 75.000 Deutschen folgende Maßnahmen durchgeführt:

Es wurde eine regionale Kommission aus Vertretern des Gebietskomitees, des Gebietsexekutivkomitees und interessierter Organisationen gebildet, vorort wurden Trojkas eingerichtet. ... In Übereinstimmung mit der Anordnung des Zentralkomitees der Allrussischen Kommunistischen Partei (Bolschewiken) und des Rates der Volkskommissare wurde ein Beschluß des Gebietskomitees sowie des Gebietsexekutivkomitees erarbeitet und an die einzelnen Orte verschickt. Außerdem wurde in Abstimmung mit dem Sekretär des Regionskomitees in die Bezirke, in denen die eingetroffenen Umsiedler einquartiert werden sollen, 40 Kommunisten aus dem Aktiv des Gebietskomitees und des Gebietsexekutivkomitees mobilisiert und auf NKWD-Ebene dorthin geschickt; für die Abladestellen wurden 16 verantwortliche operative Mitarbeiter der NKWD-Behörde zugeteilt und bereits dorthin entsandt.

... Am 8. September fand in Krasnojarsk eine operative Sitzung mit den Leitern der interessierten Organe und dem leitenden Personal der NKWD-Behörde statt. Auf dieser Sitzung waren auch der Sekretär des Gebietskomitees sowie der Vorsitzende des Gebietsexekutivkomitees anwesend.

... Erarbeitet und bestätigt wurde im Büro des Gebietskomitees ein Plan zur Beförderung der Umsiedler innerhalb der Region per Eisenbahn oder auf dem Wasserwege, unter Berücksichtigung der Maßgabe, die Umsiedler schnellstmöglich an ihre neuen Wohnorte zu bringen und dabei das Frachtfuhrwesen nur in geringstmöglichem Maße zu nutzen, da sich derzeit die Erntearbeiten und Getreidelieferungen in vollem Gange befinden.

Amheutigen Tage trafen in der Region Krasnojarsk folgende Züge ein: N° 820 – 48 Waggons, 677 Familien, 2842 Personen. ...“ 3

Aus der Republik der Wolgadeutschen begann die Umsiedlungsoperation am 3. und endete am 20. September 1941. Insgesamt waren 872.578 Deutsche von der Umsiedlung betroffen. Bis zum 15. Oktober 1941 hatte man bereits 749.613 Personen umgesiedelt. Die Deportation wurde nach einem zuvor erarbeiteten Plan durchgeführt, streng diszipliniert, aber ohne Anwendung körperlicher Gewalt, denn das völlig verwirrte Volk fügte sich seinem Schicksal und leiste gegen die Willkürmaßnahmen keinerlei Widerstand.

Im Bezirk Kuragino wurde die Einquartierung der deportierten Deutschen in den Mokinsker, Detlowsker, Grjasnuchinsker, Ponatschewsker, Kuraginsker und anderen Dorfsowjets vorgenommen; die Wohnorte waren dann die Ortschaft Kuragino, die Dörfer Mokino, Ponatschewo, Grjasnucha, Malaja und Bolschaja Irba und andere.

Es ist nicht gelungen, solche, die Organisation betreffende, Dokumente in den Archiven zu entdecken, aber in den Wirtschaftsbüchern sind deutsche Familien vermerkt: Bruch – 5 Personen, Wagner – 6 Personen, Schlundt – 8 Personen, Birich – 8 Personen, Bekker (Becker) – 7 Personen, Kaiser – 4 Personen, u.a. 4

Ein Großteil der Umsiedler wurde zum Arbeiten auf die Farmen der „Kuraginskij“-Sowchose und der Sowchose Solotoprodsnab (Lebensmittelversorgungsstelle des Goldbewerks; Anm. d. Übers.) bei der Artemowkser Goldgrube geschickt.

„Bei Ankunft im Dorf Dschirim, - setzt Ganna (Hanna) Filippowna ihre Erinnerungen fort, - wurden wir, zusammen mit einer anderen sechsköpfigen Familie, in einer Scheune untergebracht. Dort gab es weder einen Ofen noch Türen. Die Mutter baute uns aus Steinen einen Ofen. Wärme strahlte von ihm nicht aus, aber man konnte wenigstens auf ihm kochen. Am nächsten Tag mußten wir sofort zur Arbeit gehen – wir mußten mähen, denn die Erntezeit war in vollstem Gange.

Warme Kleidung gab es nicht; alles, was wir von zuhause mitgebracht hatten, mußten wir ja gegen Lebensmittel eintauschen, um wenigstens ein wenig zum Essen zu haben.

Ich arbeitete mit Mama in der Kolchose, dafür bekamen wir eine Lebensmittelration. Der elfjährige Jakob beförderte irgendwelche Lasten mit einem Pferd. Und in der Nacht strickte und häkelte die ganze Familie für fremde Menschen Schals, damit sie uns dafür ein paar Kartoffeln gaben. Im Dorf gab es eine Schule, insgesamt vier Schulklassen und eine Lehrerin. Die Kinder der Deutschen gingen anfangs überhaupt nicht zur Schule, denn sie mußten arbeiten. Nur die ganz Kleinen, wie Schwester Emma, die sechs Jahre alt war, konnten später lernen“.

Sofort nach der Umsiedlung des Hauptkontingents der deutschen Bevölkerung folgte eine ganze Serie von Gesetzesakten, die ihren Arbeitseinsatz festlegten: die Verfügung des Rates der Volkskommissare N° 57-K vom 30.10.1941 „Über die Umsiedlung von Personen deutscher Nationalitä aus Industriebezirken in landwirtschaftliche Gebiete“; die Verfügung des Staatlichen Komitees für Verteidigung N° 1223 (streng geheim) vom 10.01.1942 „Über Verfahrensweisen beim Arbeitseinsatz der deutschen Umsiedler im Einberufungsalter von 17 bis 50 Jahren“; die Verfügung des Staatlichen Komitees für Verteidigung N° 1281 (streng geheim) vom 14.02.1942 „Über die Mobilisierung aller deutschen Männer im Einberufungsalter von 17 bis 50 Jahren, deren ständiger Wohnsitz sich in den Gebieten und Regionen der autonomen sowie Unions-Republiken befindet“. Mit diesen Dokumenten wurde die Mobilisierung und der Arbeitseinsatz der deutschen Bevölkerung in Arbeitskolonnen der Trudarmee für die gesamte Dauer des Krieges bei Bauprojekten des NKWD und in der Industrie legitimiert. Die Trudarmeen waren eine Sondererscheinung, die in sich Elemente des Kriegsdienstes, der Produktionsaktivitäten und des GULAG.Systems vereinigten.

Am 7. Oktober 1942 kam die Verfügung N° 2383 (streng geheim) des Staatlichen Verteidigungskomitees „Über die zusätzliche Mobilisierung von Deutschen für die Volkswirtschaft der UdSSR“ heraus, demgemäß alle Männer im Alter zwischen 15 und 55 Jahren sowie deutsche Frauen im Alter zwischen 16 und 45 Jahren in die Arbeitsarmee einberufen werden sollten.

„Der Winter ging vorüber; und im Sommer 1942 holten sie die ersten Umsiedler in die Arbeitsarmee, - fährt Ganna (Hanna) Filippowna mit ihrem Bericht fort. – Ich war schon 16 Jahre alt und bekam einen Ausweis. Und da, im Oktober 1942, bekamen die Mutter und ich die Vorladungen. Das war eine furchtbare Tragödie. Sie holten alle arbeitsfähigen Deutschen und schickten sie in die Ortschaft Kuragino. Aber wir konnten den Ort nicht verlassen, denn auf dem Fluß Tuba herrschte Eisgang, es gab keine Möglichkeit fortzukommen. Sie verteilten uns auf die einzelnen Häuser. Am 21. November kamen sie erneut, um uns mitzunehmen. Meine armen Schwestern und der Bruder klammerten sich an die Mutter. Sie war doch das einzige, as sie besaßen. Wie sollten sie nur ohne sie auskommen? Mama sank ohnmächtig zu Boden. Sie kam erst wieder zu sich, nachdem man sie bereits in den Schlitten gesetzt hatte; danach verbrachte sie die gesamte Teit der Fahrt auf den knien und betete Gott um Hilfe an“.

In der Ortschaft Kuragino halfen gutmütige Menschen ihr ein Gesuch zu schreiben, damit sie zuhause bleiben konnte, denn sie hatte doch vier Kinder und außerdem litt sie nach einer durchgemachten Operation an einer Augenerkrankung.

„Ihr Bittgesuch wurde positiv entschieden; die Mutter durfte bleiben. Aber so ein Fall bildete eher eine Ausnahme, denn alle Frauen, deren Kinder über drei Jahre alt waren, wurden ohne Wenn und Aber in die Trudarmee eingezogen; die Kinder kamen zu Verwandten oder, wenn es keine gab, ins Kinderheim“.

Existierende Archivdokumente bestätigen das. Aus der Familie Birich (8 Personen), die in der Ortschaft Grjasnucha lebten, wurden 1942 das Familienoberhaupt, seine Ehefrau und 2 Söhne in die Trudarmee geholt; 1945 – ein weiterer Sohn. Drei Kinder, geboren 1930, 1936 und 1938, blieben allein zurück.

Bemerkenswert, dass am inden Wirtschaftsbüchern auch Angaben über Abgänge in die Rote Arbeiter- und Bauern-Armee machte.

„In der Trudarmee, - fährt Ganna (Hanna) Filippowna fort, arbeitete ich in der Stadt Ischimbaj, in der Baschkirischen ASSR. Dort wurde uns sofort der Ausweis weggenommen. Als neue Wohnung bekamen wir eine nicht fertig gebaute Schmiede zugeteilt, in der es keinen Ofen gab. Zuerst bauten wir eine Fabrik und hoben Gräben aus. Vom ständigen Schmutz und Matsch begannen unsere Hände und Füße zu faulen, es bildeten sich Geschwüre, die einfach nicht vernarben wollten, die Läuse und Wanzen fraßen uns auf, wir erhielten eine spärliche Verpflegung. Danach kamen wir in die Holzfällerei. Dort lebten wir in Laubhütten, die auf Flößen standen. Holz ist schwer. Mit der Zeit hatten sich die Balken mit Wasser vollgesogen; sie sanken tiefer, so dass das Wasser die Laubhütten überflutete. Noch später wurden die geschwächten Mädchen zur Erledigung leichterer Arbeiten verschickt – sie sollten sich um die Treibhäuser und Frühbeete der Hilfswirtschaft kümmern. Dort arbeitete ich bis 1947“.

Unter größtmöglicher Aufbietung aller Kräfte, unter Bedingungen, die praktisch denen der Zwangsarbeit gleichkam, überlebten die Sowjet-Deutschen und schufteten als Stoßarbeiter.

Der Leiter der NKWD-Behörde für die Region Krasnojarsk, I.P. Semjonow, schrieb in einem offiziellen Bericht an die Abteilung Sondersiedlung beim NKWD der UdSSR im Februar 1946:

„Viele der Sondersiedler erfüllen und übererfüllen die Normen; sie sind fleißige Arbeiter“.

Diejenigen, die in ländlichen Gegenden blieben, arbeiteten in Kolchosen und Sowchosen. Auf dem Territorium des Bezirks handelt es sich dabei um die Kolchosen „Roter Oktober“, „Komintern“, die Milchsowchose „Kuraginskij“ u.a. 5 Ab 1945 begann man deutschen und russischen Müttern mit vielen Kindern eine einmalige finanzielle Unterstützung auszuzahlen. In der Folgezeit wurde vielen von ihnen der Titel „Heldenhafte Mutter“ verliehen. 6

Beginnend mit dem Jahr 1945 wurde die Rechtslage der Umsiedler durch die Verordnung des Rates der Volkskommissare der UdSSR N° 35 und die Anordnung des Rates der Volkskommissare der UdSSR „Über die Bestätigung des NKWD-Sonderkommandantur-Status“ festgelegt.

Ende 1945 wurde ein Teil der deutschen Familien, die im Kuraginsker Bezirk verstreut angesiedelt worden waren, erneut in den europäischen Teil der UdSSR umgesiedelt, insbesondere auf die Kursker Pferdezuchtfarm. Aus dem Dorf Malaja Irba reisten die Familien Ekkerdt und Krieger, aus dem Dorf Grjasnucha die Birichs u.a. ab.

Deportation, Trudarmee und Sonderansiedlung waren untereinander als Bestandteile der vom totalitären Regime durchgeführten Nationalpolitik verbunden, welche auf unterschiedlichste Weise durch grausame Anweisungen, die im allgemeinen mit dem Stempel „streng geheim“ versehen waren, reglementiert wurden.

Der deutsche Rentner und Sondersiedler A,E. Airich unterstreicht mit bitterem Unterton: „Es gab nichts Konkretes, dessen manuns beschuldigen konnte, außer unserer Nationalität; aber nichtsdestoweniger wurden die meisten von uns durch die NKWD-Organe in sogenannte „Arbeitsarmeen“ geschickt – hinter Stacheldraht. Kraft der Gesetzte soolten wir nach all den ertragenen Leiden, zahlreichen Menschenopfern, deren Gräber unbekannt geblieben sind, für viele Jahre als Sonderumsiedlern in starren zivilen Organisationen leben. Und das ungeachtet der Tatsache, dass es unter uns zahlreiche Angehörige der Kommunistisch-Leninistischen Jugendorganisation gab“. 7

Die Trudarmeen existierten noch bis zum Jahr 1946,und als sie liquidiert waren, durften die Trudarmisten ihre Familien zu sich holen und gingen in den Status der Sondersiedler über.

Auch bei Ganna (Hanna) Schlundt war dies der Fall, die aufgrund einer „Anwerbung“ 1948 in das Unternehmen „Baschsoloto“ (Baschkirisches Gold-Unternehmen; Anm. d. Übers.) geriet. „Alle Arbeiter wurden im Klub zusammengerufen, an den Türen waren Wachen aufgestellt, und ein Vertreter der Kommandantur verlas den Befehl, dass wir hier nun zur ewigen Ansiedlung bleiben müßten. Hier wurden wir an Ort und Stelle gezwungen, dies durch unsere Unterschrift zu bestätigen“.

1949 wollte Ganna (Hanna) Filippowna heiraten, aber den Familiennamen ihres Ehemannes durfte sie damals nicht annehmen und auch die Eheschließung wurde verboten. Man erlaubte sie erst 1957.

Unter Aufsicht der Kommandantur standen die Sondersiedler bis zum Jahr 1955. Aus einer Bescheinigung des kommissarischen Leiters der 4. Sonderabteilung beim MWD der UdSSR – Nowikow – aus dem Februar 1955, die mit dem Stempel „streng geheim“ versehen ist, geht hervor, dass sich 718.608 Deutsche unter Aufsicht der MWD-Organe befanden, darunter waren per 1. Juni 1954 insgesamt 2260 Mitglieder sowie 267 Mitgliedskandidaten für die Kommunistische Partei der UdSSR, die auf dem Territorium von 16 Republiken, Regionen und Gebieten angesiedelt waren.

Gemäß Anordnung des Ministerrats der UdSSR vom 5. Juli 1954, N° 1439-649 – streng geheim, „Über die Abschaffung einiger Einschränkungen in der rechtlichen Situation der Sonderumsiedler“ wurden im Verlauf der Monate August bis November 1954 alle Kinder von Sondersiedlern bis zum vollendeten 16. Lebensjahr aus den Melderegistern der MWD-Organe ausgetragen. Sonderumsiedlern, die älter als 16 Jahre alt waren, wurde das Recht auf Bewegungsfreiheit innerhalb der Republiken, Regionen und Gebiete, in denen sie sich niedergelassen hatten, zugestanden; bei beruflich bedingten Reisen wurde jede Fahrt an einen beliebigen Punkt des Landes anch allgemein gültigen Grundlagen bewilligt. Dem Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der UdSSR wurden Vorschläge für die Einberufung einiger Sondersiedler-Kategorien zum aktiven Militärdienst vorgelegt; darunter fielen auch Deutsche der Jahrgänge 1935, 1936 und 1937, sowie für die Registrierung kriegspflichtiger Reservesoldaten aus den Reihen der älteren Sondersiedler.

Man fing an den Deutschen für ihre Stoß- und Bestarbeit in den Dörfern Orden und Medaillen zu verleihen. Im ganzen Bezirk Kuragino bekannt sind die Bestarbeiter: N. Gummenscheimer (Schweinezucht), J. Fertich (Mähdrescherfahrer), die Mechanisatoren F. Birich und A. Schrainer (Schreiner), der Traktorist I, Stiehl u.a. 8

1956 erhielten Ganna (Hanna) Filippowna Schlundt und andere Sondersiedler einen Ausweis und ein Arbeitsbuch, ohne bei dieser Gelegenheit verlauten zu lassen, dass sie damit gleichzeitig auch aus der Sonderansiedlung freigelassen seien. Danach kehrte Ganna (Hanna) Filippowna mit Ehemann und Sohn in die Siedlung Kuragino zurück. Auch ihrer Mutter und einige andere Deutsche, die früher in der Ortschaft Bauer gewohnt hatten, zogen nach Kuragino um, weil etlichekleine Dörfchen im Kuraginsker Bezirk liquidiert wurden.

Ganna (Hanna) Filippownas Schwester lebt in der Region Krasnojarsk, der Bruder reiste nach Deutschland aus, wie viele andere deutsche Familien, die im Bezirk ghelebt hatten, auch. Sie bekam den Titel „Veteranin der Arbeit“ verliehen; es gibt viele an sie gerichtete Dankesschreiben. Sie nimmt die Vergünstigungen für Rehabilitierte in Anspruch (sie wurde am 11. April 1995 rehabilitiert), erhielt eine Kompensation für den seinerzeit konfiszierten Besitz. „Aber es kommt deswegen keine Feude auf, - beendet sie ihre Erzählung. – Mein Schicksal ist zerbrochen, wie das tausender anderer, die Gesundheit ist dahin, und noch im Kindesalter starb mein ältester Sohn. Viel zu spät kam die Schuldanerkenntnis des Staates, für das, was er getan hat“. Und die Tränen tropfen auf die sorgsam gehüteten Bescheinigungen über den Abschluß der unvollständigen Mittelschule in Bauer, die geographische Karte der Republik der Wolga-Deutschen und die Fotos aus der Zeit, als Adolf Bruch im Jahre 1907 seinen Wehrdienst ableistete.

Die Deportation der Deutschen, die Liquidierung der ASSR der Wolga-Deutschen brachte dem Staat Milliardenverluste ein, denn viele Wirtschaften und Unternehmen wurden praktisch liquidiert. In der härtesten Periode des Krieges fehlten dem Lande viele tausend Tonnen Getreide und auch andere landwirtschaftliche sowie indiústrielle Erzeugnisse. Wirtschaft, Infrastruktur, die ganze materielle Kultur auf dem Gebiet der ehemaligen ASSR der Wolga-Deutschen erlitten einen nicht wiedergutzumachenden Schaden.

An den neuen Wohnorten erfüllte der Staat keine einzige seiner Pflichten, wie sie in den Direktiven über die Deportation festgelegt worden waren. Die Menschen erhielten keine Wiedergutmachung für ihre verlorenen Häuser, den Besitz, das Vieh usw. Die deutschen Sonderumsiedler waren Menschen, die man einfach in einer wildfremden Region der Willkür des Schicksals überließ, wo sie am eigenen Leibe harte materielle Entbehrungen und grausame moralische Erniedrigungen erfahren mußten. Bei vielen von ihnen verstärkte sich all das noch durch den Aufenthalt in den Lagern der „Arbeitsarmee“ und dem groben Verlust der elementarsten Menschenrechte.

Erst 1964 wurden in einem geheimen Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR alle Beschuldigungen gegenüber den Sowjetdeutschen, dass sie 1941 Handlanger und Komplicen des Feindes gewesen seien, als unbegründet anerkannt; danach begann zögerlich und mit erheblicher Inkonsequenz die Wiederherstellung ihrer bürgerlichen Rechte. Sie zog sich über etliche Jahre hin.

Man darf sich der Meinung über besonderen Haß seitens des Staates gegenüber den Sowjet-Deutschen und des verübten Genozids nicht anschließen. Das Ganze war wohl eher eine zielgerichtete Politik, mit deren Hilfe die sowjetischen Leiter versuchen wollten, ihre Lebenspläne zu verwirklichen, u.a. auch das Stopen der Löcher in der Wirtschaft mithilfe billiger Arbeitskräfte.

1 „Die Deutschen in Arbeitskolonnen zu mobilisieren ... J. Stalin“ – Dokumentensammlung /
1940er Jahre / ... – Moskau, „Gotika“-Verlag, 2000. – S. 19,22
2 Ebenda, S. 248-249
3 „Josef Stalin – Lawrentij Berija: Man muß sie deportieren“ – Dokumente, Fakten, Kommentare. – Moskau, Verlag „Völkerfreundschaft“, 1992. – S. 52, 53, 76
4 Kuraginsker Bezirks-Archiv. Fond P-7, Verz. 1, Akte 3, Blätter 5, 26, 33 ; Akte 4, Blätter 8, 33, 37, 58 ; Akte 6, Blatt 10. Fond P-22, Verz. 2, Akte 6, Blätter 48-51. Fond P-25, Verz. 1, Akte 2, Blätter 2, 50 ; Akte 3, Blätter 62, 63, 80, 81 ; Verz. 3, Akte 1
5 Ebenda
6 Kuraginsker Bezirksarchiv. Fond P-7, Verz. 1, Akte 3, Blätter 5, 26, 44 ; Akte 4, Blätter 8, 33, 37, 58 ; Akte 6, Blatt 10
7 „Josef Stalin – Lawrentij Berija: Man muß sie deportieren“ – Dokumente, Fakten, Kommentare. – Moskau, Verlag „Völkerfreundschaft“, 1992. – S. 52, 53, 76
8 Kuraginsker Bezirksarchiv. Fond P-184 (W.F. Nowoselowa). Verz. 1, Akte 5, 6, 7

I.A. Becher, A.J. Kaljuga

Menschen und Schicksale, 20. Jahrhundert
Thesen aus Referaten und Mitteilungen der wissenschaftlichen Konferenz. Krasnojarsk, 30. Oktober 2003.
Krasnojarsk, 2003


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