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S.A.Papkow. Die Strafjustiz in der UdSSR ÑÑÑÐ während des II. Weltkriegs (1940-1945)

Der Weltkrieg, der sich im Jahre 1939 in Europa entfaltete, veränderte in radikaler Weise viele Prioritäten in der Innenpolitik des stalinistischen Regimes und wurde zum Anlaß tiefgreifender Wandlungen innerhalb des Strafjustizsystems, vor allem bei der Anwendung des Kriminalstrafrechts. Die repressive Natur der Sowjetjustiz, die sich seit den ersten Jahren der bolschewistischen Macht formiert hatte, nahm während des Krieges endgültige Formen an. Und hierin bestand auch ihre Einzigartigkeit: in keinem anderen Zeitraum der sowjetischen Geschichte befand sich das System der Strafgesetzgebung in einer derartigen Abhängigkeit von der alltäglichen Politik des herrschenden Regimes und nahm ein derartiges Ausmaß in Bezug auf die Mobilmachungsaufgaben im sozialpolitischen und wirtschaftlichen Bereich an, wie gerade zu Zeiten des Krieges.

Allerdings wurden die ersten bedeutenden Schritte zum Übergang auf die außergewöhnliche Situation bereits am Vorabend des Kriegseintritts gegen Deutschland getan. Neue Bestrafungstendenzen im Zusammenhang mit der Kriegslage tauchten im sowjetischen Strafrecht im Jahre 1940 auf. Sie waren eines der Schlüsselwerkzeuge der Mobilisationspolitik des Regimes und betrafen das System der Arbeitsverhältnisse im Lande. Es handelte sich um eine Serie von Dekreten des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR, von denen das wichtichgste der Ukas vom 26. Juni 1940 «Über die Einführung des 8-Stunden-Arbeitstages, die 7-Tage-Arbeitswoche und das Verbot des eigenmächtigen Verlassens von Unternehmen und Behörden seitens der Arbeiter und Angestellten“ war.

Die charakteristischste Besonderheit in der Entwicklung der sowjetischen Rechtsprechung zu Kriegszeiten war die Überprüfung der Liste jener Taten, für die man strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden konnte, und als Folge davon – der unausweichliche Anstieg strafrechtlicher Verfolgung. Die Grenzen der Anwendung des Strafkodex wurden in einem ungewöhnlichen Umfang ausgeweitet, indem man den Rahmen des Begriffs „verbrecherische Tätigkeiten“ großräumiger absteckte. Infolgedessen ging eine ganze Reihe von Taten, die zu Friedenszeiten noch nicht einmal als administrative Rechtsverletzungen gegolten hatten, in die Kategorie von Verbrechen über und unterlag somit einer Verfolgung nach dem Strafrecht (1). Zur Kategorie der strafrechtlichen Verletzungen gehörten fortan auch Tätigkeiten wie „das Verbreiten unwahrer Gerüchte zu Kriegszeiten“ (Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 6. Juli 1941 ), „das Umgehen der Abgabe von Rundfunkempfängern und Prismenferngläsern“ (auf Grundlage des §59-6 des Strafgesetzes der RSFSR), „das Sich-Entziehen von der Verpflichtung einer militärischen Ausbildung“. Auch für einige Taten (oder Nicht-Taten), die dem Strafgesetzbuch der RSFSR vor dem Krieg noch unbekannt waren, wurde nun ebenfalls eine strafrechtliche Verantwortlichkeit eingeführt: für Kolchosarbeiter – „wegen Nichterfüllung der festgelegten Mindest-Tagesarbeitseinheiten“ (Ukas vom 15. April 1942 ), „wegen Steuerhinterziehung oder Nichterfüllung von Pflichten“ (auf Grundlage des §59-6 des Strafgesetzes der RSFSR), für die Jugend – „wegen des Sich-Entziehens von der Erfassung zum Militärdienst„ (Verordnung des Staatlichen Komitees für Verteidigung vom 16. Januar 1942 ), „wegen des Sich-Entziehens der Stadtbevölkerung von der Mobilisierung während des Krieges zu Arbeiten in der Industrie oder an Bauprojekten“ (Ukas vom 13. Februar 1942), «Weigerung vor der Mobilisierung zu landwirtschaftlichen Arbeiten“ (Ukas vom 15. April 1942 ) sowie einige andere.

Gleichzeitig wurde auch die Altersgrenze gesenkt, mit der die Strafmündigkeit für alle Arten von Verbrechen in Kraft treten konnte. Per Gesetz vom 31. Mai 1941, das ganz speziell für Minderjährige vorgesehen war, setzte die strafrechtliche Volljährigkeit für Jugendliche ab 14 Jahren ein.

Eine weitere wichtige Tendenz war die allgemeine Vergrausamung der Gesetzgebung im Arbeitsrecht. Maßnahmen strengster strafrechtlicher Verfolgung wurden ausgeweitet auf Vergehen wie Zuspätkommen zur Arbeit, Bummelei, eigenmächtiges Sich-Entfernen aus dem Unternehmen, das Sich-Entziehen von der Mobilisierung zu Arbeiten in der Industrie, auf dem Bau oder in der Landwirtschaft. Aber mit dem Eintritt der UdSSR in den Krieg gegen Deutschland und der weiteren Militarisierung des wirtschaftlichen Lebens wurden die Sanktionen für diese Rechtsverletzungen noch erheblich verschärft. Wenn laut Ukas vom 26. Juni 1940 das eigenmächtige Verlassen des Arbeitsplatzes mit einer Gefängnishaft von 2-4 Monaten bestraft wurde, so wurde ein solches Sich-Entfernen aus einem Unternehmen von militärischer Bedeutung nach dem Ukas vom 26. Dezember 1942 wie Desertieren vom Arbeitsplatz geahndet und mit einer Gefängnisstrafe von 5-8 Jahren bestraft (2).

Eine weitere neue Tendenz stellte schließlich die außerordentliche Vereinfachung des gerichtlichen Ermittlungsverfahrens sowie die Art und Weise der Anwendung von rechtlichen Maßnahmen dar. Eine solche Situation war möglich als Folge einer gesteigerten Bedeutung der Sondergerichte (der Militär- und Verkehrstribunale), welche eine beschleunigte und vereinfachte Verurteilungspraxis und Rechtsprechung anwandten, die sich auf Ukase stützte, in denen erhebliche Abweichungen von den gewöhnlichen Rechtsnormen im Hinblick auf deren vereinfachte Anwendung herrschten. Eine weitere Voraussetzung war die Herabsetzung des allgemeinen Niveaus an qualifizierter Rechtsprechung im Lande. Das sehr hohe Maß an Abhängigkeit der sowjetischen Rechtsprechung vom politischen Einfluß und der pragmatischen Einstellung des Regimes gegenüber der Erfüllung der Rechtsnormen, die besonders zu Kriegszeiten charakteristisch sind, führten zu einem erheblichen Anstieg von Gegenständen der Rechtsanwendung, die überhaupt nicht in den Bereich der Rechtsprechung gehören. Unter diesem Aspekt überschritt das System der strafrechtlichen Verfolgung jene sowjetischen Normen, die während der Vorkriegszeit entstanden und legitimiert worden waren.

Die Rechtsprechung in der UdSSR fand sich erneut im Schraubstock einer tiefen Krise und Degradierung - in ihrem ganzen Maßstab und ihren Folgen vergleichbar mit dem Zeitraum zu Beginn der 1930er Jahre. Da der Krieg einen Ausnahmezustand darstellte, übernahmen fast alle wichtigen Partei-, Sowjet-, Wirtschafts- und Verwaltungsleiter die Initiative, Strafverfolgungen einzuleiten: Sekretäre und Vorsitzende der Bezirksexekutiv-Komitees, Direktoren von Unternehmen, Maschinen- und Traktorenstationen und Sowchosen, sowie alle möglichen Bevollmächtigten, Kolchosvorsitzenden und Leiter von Behörden und Organisationen.

Nachdem die Amtspersonen mit den Rechten und Pflichten ausgestattet waren, welche sie ermächtigten, die Eröffnung von Strafverfahren in Bezug auf Untergebene zu verlangen, strebte die politische Leitung der UdSSR gleichzeitig eine Ordnung an, bei der die örtlichen Vorgesetzten nur wenige Chancen hatten, sich den ihnen auferlegten strafrechtlichen Funktionen zu entziehen. Die Karriere und oft auch die Freiheit dieser Leute befand sich in unmittelbarer Abhängigkeit von ihrer Bereitschaft, untergeordnete Personen an das Gericht auszuliefern.

Die unglaubliche Dezentralisierung der verwaltungsrechtlichen Funktionen ließ eine sehr weitreichende und chaotische Rechtsanwendung entstehen. Für unbegründete Verhaftungen, Hinrichtungen und andere strafrechtliche Maßnahmen waren während des Krieges weite Genzen gesteckt, und deswegen wurden Millionen sowjetischer Bürger zu Opfern einer willkürlichen Gerichtsbarkeit. Die Statistik der Verurteilungen in den Jahren 1940-1945 wird wohl niemals in vollem Umfange festgestellt werden können. Aber selbst die bisher bekannt gewordenen Daten und Angaben geben Grund zu der Annahme, dass die Strafrechtssprechung in der UdSSR sich während des Krieges durch eine beispiellose Expansion auszeichnete und eine wichtige Rolle als Instrument der Staatslenkung einnahm.

«Konterrevolutionäre Verbrechertätigkeit»

Im System der sowjetischen Rechtsprechung wurden «konterrevolutionäre» Handlungen traditionsgemäß als schwerwiegendstes Staatsverbrechen eingestuft (3). Zu ihrer Unterdrückung sah der Strafkodex ein breites Spektrum an Sonder-Paragraphen vor. Aber der wichtigste unter ihnen war der §58 mit seinen 14 Absätzen, in denen alle nur erdenklichen Fälle von «Konterrevolution» beschrieben sind: Spionage, Agitation und Propaganda, Schädlingstätigkeit, Diversion, Rebellion und Mitwirkung in konterrevolutionären Organisationen, Vaterlandsverrat usw. In der sowjetischen Alltagspraxis der 1940er Jahre fanden zwei Absätze aus dieser Liste am allerhäufigsten Anwendung: §58-10 (Agitation und Propaganda) und §58-14 (Sabotage). Ihr Geltungsbereich war überwiegend in den Bezirken des Hinterlandes verbreitet. An der Front, in den Truppenteilen und den Zonen, die an Regionen angrenzten, in denen sich Kriegshandlungen abspielten, wurde der § 58-1 (Vaterlandsverrat) am häufigsten angewendet.

Unter Kriegsbedingungen nahm der Grad der Verantwortlichkeit für «konterrevolutionäre Tätigkeiten» noch weiter zu. Dementsprechend wurde auch das Strafmaß heraufgesetzt. Im Befehl des Volkskommissars der Justiz der RSFSR – K.P. Gorschenin – vom 31. Oktober 1941 «Über die Arbeit der Obersten Gerichte der ASSR, der Provinz-, Regions- und Bezirksgerichte in Sachen konterrevolutionärer Verbrechen zu Kriegszeiten» wurde allen Gerichten zur Aufgabe gemacht «alle Konterrevolutionäre und Agenten des deutschen Faschismus mit härtesten Gerichtsrepressalien zu begegnen...», die zu Kriegszeiten geltenden Gesetze bei allen Fällen von konterrevolutionärer Propaganda und Agitation anzuwenden, und zwar «unabhängig davon, ob das Territorium, auf dem das Verbrechen verübt worden sei, zum Kriegsgebiet erklärt worden war oder nicht» (4). Ferner wurde in dem Befehl der Hinweis gegeben «dass die Verhandlung eines Falls von Staatsverbrechen binnen einer Frist von zehn Tagen ab Eingang der Akte bei Gericht zu erfolgen habe...». Das gesetzliche Strafmaß wurde vor allem durch die Einführung des Absatzes 2 des §58-10 des Strafgesetzes der RSFSR in die Gerichtspraxis verschärft, der ausschließlich für „Kriegssituationen“ vorgesehen war und sich an der Anwendung der Höchststrafe, dem Tod durch Erschießen, orientierte. Dabei war die praktische Anwendung dieses Absatzes laut Statistik ab den ersten Kriegsmonaten dominierend: 45-50% aller Gerichtsurteile wurden aufgrund von «konterrevolutionären Verbrechen» gefällt.

Als allerwichtigste Kategorie in den Strafrechtsfällen unterlagen die Verfahren „über konterrevolutionäre Verbrechen“ nicht der Überprüfung durch Gerichte der untersten Instanzen – den Volks- (Bezirks-) Gerichten. Sie wurden an Gerichte höheren Niveaus odermit höherer Rechtspechung übergeben: an die republikanischen und regionalen Gerichte, das Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR, die Militär- und Verkehrstribunale sowie das Sonderkollegium beim NKWD-NKGB der UdSSR. Es existierte sogar eine ganz spezifische Verfahrensweise bei der Prüfung dieser Fälle und der Verhängung der Urteile: ein Teil von ihnen durchlief die vollständige gerichtliche Prozedur – gewöhnlich in einem Prozeß unter Ausschluß der Öffentlichkeit an einem republikanischen oder regionalen Gericht, andere Verfahren gerieten an die Militär- oder Verkehrstribunale, wo eine vereinfachte Verfahrensweise üblich war; und der Rest der Fälle wurde außergerichtlich verhandelt, mit Hilfe eines Sonderkollegiums, ohne viele Formalitäten und Klarstellungen im Hinblick auf die konkrete Schuld des Angeklagten. Auf jeden Fall aber verlangte der Kriegszustand des Landes von der Gerichtsbarkeit die Erfüllung zweier Schlüssel-Regeln: «die schnelle Durchführung des Verfahrens» und «harte Bestrafung».

Da den «konterrevolutionären Verbrechen» besondere politische Bedeutung beigemessen wurde, stellte ihre Unterdrückung die vorrangige Aufgabe der Rechtsorgane dar. Bereits in den ersten Monaten des Krieges verschärfte das stalinistische Regime abrupt die Repressivmaßnahmen gegen „Volksfeinde“. Neben dem Anstieg von Verhaftungen nahm auch die Anzahl der wegen „konterrevolutionärer Tätigkeiten“ verhängten Gerichtsurteile zu. Die besondere Herangehensweise im Kampf gegen «feindliche Erscheinungsformen» spiegelte sich in der beispiellosen Dynamik der Vorstrafen im Lande wider: in der Zeit, als der allgemeine Umfang an Gerichtsaktivitäten (der Eingang von Strafakten und die Einleitung von Verfahren) mit Beginn des Krieges jäh abnahm, stieg die Zahl der Verfahren wegen „konterrevolutionärer Aktivitäten“ drastisch an. So wurde beispielsweise in der Region Nowosibirsk aufgrund der Tatsache, dass die Gerichte so wenig zu tun hatten, in der zweiten Hälfte des Jahres 1941 das Netz der Volksgerichte um 26 Bezirke gekürzt (von 173 auf 147). Aber der Eingang von Verfahren nach §58-10 («konterrevolutionäre Agitation und Propaganda») beim Regionsgericht nahm in den ersten sechs Kriegsmonaten um mehr als das Dreifache zu (von 200 auf 701 Fälle) (5). Eine merkliche Zunahme der Zahl der wegen «Staatsverbrechen» Verurteilten vollzog sich auch beim krasnojarsker Regionsgericht: im ersten Halbjahr 1941 wurden 485 Personen verurteilt, im zweiten waren es bereits 1 072 (848 davon nach §58.) (6).

Die allgemeinen Maßstäbe der Nutzung der Gerichtsmaschinerie im Kampf gegen die «Konterrevolution» in den Jahren des Krieges (imVergleich zur Vorkriegsepoche) verdeutlichen am besten die Angaben der hier vorliegenden Statistik.

Tabelle 1
Zahl der von Gerichten aller Art wegen konterrevolutionärer Verbrechen verurteilter Personen im Zeitraum 1937-1945 (in der UdSSR
)

Jahre Verurteilt von obersten Gerichten der Unions- und autonomen Republiken, regionalen (Gebiets-) Gerichten (Sonderkollegien und Gerichts- Kollegien für Kriminalver-fahren) Verurteilt von Gerichten des Verkehrs- und Transportwesens, Bezirksgerichten, Militärtribunalen des Bahn- und Wasserverkehrswesens Verurteilt von Lagergerichten, Lagerabteilun- gen und ständi- gen Tagungen der obersten Gerichte der Union und der autonomen Republiken, Bezirks- und Gebietsgerichte Verurteilt von Militär-tribunalen der sowjetischen Armee und der Kriegs-Seeflotte der Truppen des MWD Verurteilt vom Militär- Kollegium des Obersten Gerichts der UdSSR Gesamt
1937 42435 keine Angaben 1 158 keine Angaben 14 732 58325
1938 45410 7 792 1 446 keine Angaben 25 235 79883
1939 38769 1 632 1 345 10 393 2 276 54415
1940 21795 1 149 1 338 5 619 1 307 31208
gesamt 1937-1940 148 409 10 573 5 287 16 012 43 550 223831
im Jahresdurchschnitt 37 102 3 524 1 322 8 006 10 887 55958
1941 44 440 4 323 7 944 28 732 1 426 86865
1942 28 254 5 565 8 381 112 973 72 155245
1943 18 336 5 845 6 337 95 802 60 126380
1944 8 631 7 478 3 791 99 425 123 119448
1945 8 363 7 216 1 783 135 056 273 152691
gesamt 1941-1945 108 024 30 427 28 236 471 988 1 954 640629
im Jahresdurchschnitt 21 605 6 085 5 647 94 397 391 128125

Quelle: Staatsarchiv der Russischen Föderation, Fond 9492, Verz. 6s, Akte 14, Blatt 8

Diese vom Volkskommissariat der Justiz der UdSSR gesammelten Angaben (Staatsarchiv der Russischen Föderation, Fond 9492), illustrieren die wellenförmige Anwendung des Strafrechts in Bezug auf politische Verbrechen und den breitgefächerten Einsatz von Gerichts- und Straforganen zum Zwecke der Strafverfolgung. Sie bezeugen vor allen Dingen, dass Gerichte allgemeiner Rechtsprechung (republikanische, regionale und gebietsgebundene) zu Kriegszeiten in „konterrevolutionären“ Verfahren einen geringeren Umfang an Straffunktionen erfüllten, als in den Vorkriegsjahren, den 1930er Jahren, und ihre Mitwirkung in diesem Bereich der Rechtsprechung bis Ende des Krieges unaufhörlich weiter abnahm. Eine besonders repressive Rolle spielten die Sondergerichte – Militär- und Transporttribunale, Tribunale der NKWD-Truppen und Lagergerichte. Auf sie entfielen beinahe 80% aller Gerichtsurteile in «konterrevolutionären Angelegenheiten» während des Krieges. Dabei wurden die meisten Verurteilungen (fast eine halbe Million Menschen in den Jahren 1941-1945) von Tribunalen der Roten Armee, der Militär-Seeflotte und den Truppen des NKWD verhängt. Diese Sondergerichte wurden, wie die Statistik zeigt, zu Anfang und gegen Ende des Krieges –1942 und 1945 am meisten genutzt, und ausgerechnet in der Zeit der schlimmsten militärpolitischen Krise, als die Landesführung einen verzweifelten Kampf gegen den Zerfall der Front und das Zurückweichen der Armee führen mußte (vom Sommer 1941-1942), und - während der Zeit der «Ergreifung von Kriegsgefangenen» – der Massenfiltration sowjetischer Soldaten, die 1945 aus deutscher Gefangenschaft befreit, sowie Zivilpersonen, die von den Besatzern aus dem Land abtransportiert worden waren.

Die Angaben in Tabelle 1, versteht sich, spiegeln lediglich einen Teil jener vielfältigen Aktionen wider, welche zur Unterdrückung der „Konterrevolution“ gehörten, und können daher nicht als vollständig gewertet werden. Sie berücksichtigen nicht diejenigen Opfer, die ein außergerichtliches Ermittlungsverfahren durchliefen – das Sonderkollegium des NKWD-NKGB, dem sogar eine bedeutsame Rolle in diesem Prozeß zukam. Auf Anordnung des Staatlichen Komitees der Verteidigung (N° GKO-903) vom 17. November 1941, die Stalins Unterschrift trägt, wurden dem Sonderkollegium mit Beginn des Krieges wieder außergewöhnliche Vollmachten zurückgegeben – etwa so, wie es in den Jahren des „Großen Terrors“ geschehen war. Man billigte ihnen das Recht zu, «unter Mitwirkung eines Staatsanwalts der UdSSR die bei den NKWD-Organen auftauchenden Verfahren über konterrevolutionäre Verbrechen und besonders gefährliche Verbrechen gegen die Staatsführung der UdSSR, entsprechende Strafmaßnahmen zu verhängen – bis hin zum Tod durch Erschießen» (7). Darauf folgte der Befehl des NKWD der UdSSR ¹ 613 vom 21. November 1941 «Über die Vollmachten des Sonderkollegiums», der von allen regionalen NKWD-Behörden verlangte, dass sie „ausnahmslos alle abgeschlossenen Ermittlungsakten, die beim NKWD zu sämtlichen Absätzen des §58 und der Mehrheit der Absätze von §59 eingegangen waren“, an das Sonderkollegium weiterzuleiten. (8). Auf diese Weise zog die stalinistische Regierung es während des Krieges erneut vor, sich auf gewohnte, also geheime, beschleunigte und vereinfachte Mittel bei der Unterdrückung der „Konterrevolution“ zu stützen und dabei gleichzeitig die Rolle der Zivilgerichte einzuschränken. Die Ausnahme-Gerichtsbarkeit der Sonderkollegien begann mit dem Ende des Jahres 1941 in breitem Maße vorzudringen, was eine beschleunigte Neu- bzw. Umverteilung der sich anhäufenden „konterrevolutionären“ Verfahren aus den regionalen (Gebiets-) Gerichten in Berijas Behörde zur Folge hatte. Demzufolge lief durch die Sonderkollegien beim NKWD-NKGB mehr als die Hälfte aller Verfahren, die zuvor auf dem Rechtswege, in Form gerichtlicher Verfahren, abgehandelt worden waren. So vermerkte beispielsweise das krasnojarsker Regionsgericht in seinem Rechenschaftsbericht den jähen Rückgang (um 58%) eingegangener und zur Verhandlung anstehender Verfahren Anfang 1942 ã. im Vergleich zum letzten Monat des Jahres 1941. Ein derartiger Rückgang, so hieß es in dem Bericht, – «erklärt sich hauptsächlich damit, dass in diesem Zeitraum auf Grundlage von Regierungsanweisungen eine entscheidende Anzahl an Verfahren dieser Kategorie außergerichtlich verhandelt wurde – durch Sonderkollegien des NKWD der UdSSR» (9). Eine analoge Verfahrensweise läßt sich auch in West-Sibirien beobachten. Im Juli 1942 teilte die Staatsanwaltschaft im Gebiet Nowosibirsk mit, dass durch die NKWD-Behörden, gemeinsam mit den Stadt- und Bezirksabteilungen; im vergangenen Monat 53 Verfahren abgeschlossen wurden, von denen 21 an eine Sonderkollegium geschickt und 31 dem Regionsgericht zugewiesen wurden. Außerdem hatten die Staatsanwälte 216 Verfahren von evakuierten Häftlingen verhandelt und deren Akten ebenfalls an ein Sonderkollegium weitergeleitet (10).

Nach einer ungefähren Bewertung stieg die Anzahl der durch Sonderkollegien verhängten Urteile, im Vergleich zu denen, die durch Zivilgerichte ausgesprochen wurden, von 1940 bis gegen Ende 1941 von 7-10% auf 50-55%. Das Sonderkollegium durchliefen vor allen Dingen Verfahren, die das Sowjetsystem als «besonders gefährliche Erscheinungen der Konterrvolution» einstufte– «Diversion», «Spionage», «aufständlerische Absichten», Schaffung von «Organisationen» è «Gruppen», sowie Häftlingsverfahren. Den Gerichtsorganen blieben Fälle unterschiedlicher Art von „Verleumdung gegen den sozialistischen Aufbau“, „Lobpreisung des Feindes“, „Verbreitung von Gerüchten“ und „Sabotage an staatlichen Gebäuden“ zur Verhandlung erhalten. Was das Strafmaß betraf, so demonstrierte die sowjetische Rechtsprechung auf diesem Gebiet eine enge Verbindung zum politischen Regime sowie Abhängigkeit von der konkreten kriegsstrategischen Situation. Die Stalinsche Leitung manipulierte schlicht und ergreifend das Recht: in der ersten, der schwierigsten Phase des Krieges (1941-1945) machte sie sich besonders intensiv die schärfsten Urteile zunutze, indem sie über hunderte und tausende Staatsbürger als «Verräter» und «Volksfeinde» die Todesstrafe verhängen ließ. Allerdings war das Verurteilen zum Tode in der Folgezeit lediglich eine Einzelerscheinung: das Regime zog es vor, die Verurteilten bei Schwerstarbeiten in Lagern im Hinterland einzusetzen, wo ein besondershohes Defizit an Arbeitskräften herrschte. Als Beispiel für eine solche Evolution der Todesstrafe während des Krieges dienen Angaben des krasnojarsker Regionsgerichts.

Tabelle 2
Die Strafpolitik des krasnojarsker Regionsgerichts
bei «konterrevolutionären» Verfahren (§58) in den Jahren 1940-1945

Jahre Zahl der insgesamt verurteilten Personen Davon zur Höchststrafe verurteilt Freigesprochen
    absolut in % absolut in %
1940 197 14 7,1 39 19,8
1941 1 146 333 29,0 6 0,5
1942 997 206 20,6 8 0,8
1943 (erstes Halbjahr) 378 7 1,9 4 1,0
1944 339 6 1,8 4 1,2
1945 (Januar-Mai) 75 3 4,0 2 2,7
Insgesamt1941-1945 2 935 555 18,9 24 0,8

Quelle: Zentrum für die Verwahrung und das Studium von Dokumenten der neuzeitlichenGeschichte der Region Krasnojarsk, Fond 26, Verz.3, Akte 8, Blatt 29; Staatsarchiv der Region Krasnojarsk, Fond R-1736, Verz. 1s, Akte 25, Blatt 13; Akte 26, Blatt 32; Akte 29, Blatt 65, 110, 169

Rechtsprechung aufgrund von Dekreten

Das Hauptanwendungsgebiet der Strafgesetzgebung während des Krieges war der Bereich, der die Arbeitsverhältnisse betraf. Zu ihrer Reglementierung wurde eine ganzes System gesetzlicher Sonderakte (Ukase) erarbeitet und anschließend Schritt für Schritt in die Praxis umgesetzt, welche praktisch alle Zweige des wirtschaftlichen Lebens und der staatlichen Behörden erfaßten. Die Ukase, die genaue Instruktionen und Anwendungsnormen für das Strafrecht mit seinen unterschiedlichen Strafmöglichkeiten beinhalteten, ersetzten im Grunde genommen den Strafkodex als solchen. Sie begannen eine für ein gewöhnliches Gesetz völlig neue und uncharakteristische politisch-ökonomische Rolle zu spielen.

Die aktive Einmischung des Kriminalrechts in die Sphäre der Arbeitsverhältnisse, die mit dem Ukas vom 26. Januar 1940 über die strafrechtliche Verantwortlichkeit wegen Verletzung der Arbeitsdisziplin ihren Anfang nahm, zog sehr weitreichende und langwierige Folgen für alle Systeme der sowjetischen Rechtsprechung nach sich (11). Dieser Ukas verbot von nun an: erstens - die Kündigung von Mitarbeitern und heftete sie damit endgültig fest an ihre Unternehmen (Behörden) an.; zweitens - kriminalisierte es den gesamten Produktionsbereich, indem es eine der am weitest verbreiteten Vergehen innerhalb des sowjetischen Wirtschaftssystems – das eigenmächtige Sich-Entfernen vom Arbeitsplatz, zu spätes Erscheinen an der Arbeitsstelle sowie Bummelei – in die Kategorie der Kriminaldelikte einordnete.

Von diesem Zeitraum an und bis zu Stalins Tod wird der Ukas vom 26. Juni 1940 den besonderen Inhalt im Hinblick auf die Arbeit und Aufgaben der sowjetischen Gerichtsorgane bestimmen und zum Hauptinstrument der massenstrafrechtlichen Verfolgungsaktionen gegenüber von Arbeitern und Angestellten werden.

Der Ukas legte folgende Strafmaßnahmen fest: jeder Angstellte eines staatlichen Unternehmens (einer Behörde), der seinen Arbeitsplatz ohne Erlaubnis der Administration verläß, unterliegt der Inhaftierung in einem Gefängnis mit einer Haftstrafe von zwei bis vier Monaten; für Zuspätkommen um mehr als zwanzig Minuten ist eine Strafe von sechs Monaten in einem Erziehungs-/Arbeitslager vorgesehen – mit einem Abzug von bis zu 25% vom Verdienst.

Gemäß Ukas trugen die Leiter von Unternehmen, die Bummelanten und andere Verletzer der Disziplin gedeckt hatten, ebenfalls Verantwortung im strafrechtlichen Sinne, weil sie den entsprechenden Ordnungsorganen keine Mitteilung darüber gemacht hatten.

Das Inkrafttreten und die Gültigkeit des Ukas vom 26. Juni dient als eines der Beispiele für die äußerst utilitaristisch Ausnutzung des Rechtssystems durch das politische Regime. Dieser Rechtsakt konnte nur in einer Wirtschaft der Mobilmachungsart das Licht der Welt erblicken – so, wie es auch beim Wirtschaftssystem unter Stalin der Fall war: eine Wirtschaft, die sich auf Millionen von niedrig bezahlten, wenig qualifizierten Arbeitsressourcen stützte, die eben durch Mobilisierung zur Arbeit im Produktionsprozeß herangezogen wurden. Noch vor Beginn des Krieges gegen Deutschland wurden zwei Millionen Menschen dazu verurteilt (12). Aber bereits Anfang 1941 verringerte sich das Ausmaß solcher Verurteilungen wieder.

In der Anfangsphase des Krieges gegen Deutschland erlebte der Ukas einen der dramatischsten Momente in seiner Geschichte. Die Metamorphose, die sich mit ihm in diesen angespannten Tagen und Wochen vollzog, könnte man als Übergang von der Niederlage zur Wiedergeburt charakterisieren. In der Periode, in der klar wurde, daß die Kriegshandlungen an den Westgrenzen der UdSSR einen immer bedrohlicheren Charakter annahmen, bereitete die sowjetische Führung den streng geheimen Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 12. Juli 1941 vor und versandte ihn an alle örtlichen Gerichtsorgane – ein Ukas, durch den die Wirksamkeit des Ukas vom 26. Juni im Grunde genommen aufgehoben wurde. Dieses geheime Gesetz gab allen Regionen der UdSSR die aufgrund der Kriegssituation erteilte Anweisung, die gemäß Ukas vom 26. Juni sowie wegen einiger, nur als geringfügig anzusehenden Verbrechen Verurteilten aus den Gefängnissen zu entlassen und gleichzeitig alle Verfahren im Hinblick auf diese Art von Verbrechen einzustellen, die vor dem 12. Juli 1941 begangen wurden (13). Einer der Punkte des Ukas vom 12. Juni verlangte, daß sämtliche in die Freiheit entlassenen Häftlinge über ihre besondere Verantwortung hinsichtlich der Geheimhaltungspflicht über die wahren Gründe ihrer vorzeitigen Entlassung vorab informiert und gewarnt wurden. Es versteht sich wohl von selbst, daß diese Forderung nicht mit letzter Konsequenz eingehalten werden konnte, und schon bald darauf wurden die ehemaligen Arrestanten zu Verbreitern „schädigender und provokativer Gerüchte“ darüber, daß «jetzt nach dem Ukas vom 26. Juni keine Verurteilungen vorgenommen werden».

Der beunruhigte Volkskommissar der Justiz der RSFSR, der aus diesem Anlaß spezielle Briefe an die regionalen und Gebietsgerichtsorgane versendet hatte, bemühte sich die verfahrene Situation wieder geradezubiegen. Er wies darauf hin, daß „viele Volksgerichte sowohl das Tempo, als auch die Qualität bei der Berhandlung von Verfahren der wichtigsten Kategorien reduzierten“, „ihre Aufmerksamkeit im Hinblick auf Arbeitsdisziplin in Unternehmen und Behörden erheblich verringerten“. (14). Als Beispiel wurde das Iwanowsker Gebiet aufgeführt, wo Freisprüche „böswilliger Bummelanten“ und die Einstellung von Verfahren laut Ukas vom 26. Juni 1940 zur gängigen Gerichtspraxis gehörten. Das Volkskommissariat der Justiz verlangte die Verschärfung gerichtlicher Sanktionen und die „unverminderte Verhängung von Strafen gemäß Kriegsrecht“.

Ab Herbst 1941 begann in einer dramatischen Situation von Massenevakuierungen und dem Zerfall des Produktionsvolumens die nächste Phase der Aktivisierung des Ukas vom 26. Juni. In Sibirien wurde der besonders schnelle Anstieg (um das Zweifache) der bei den Gerichten eingehenden Verfahren wegen Bummelei und eigenmächtigen Verlassenes des Arbeitsplatzes Mitte 1942 mit folgendem Kommentar begründet: «im Zusammenhang mit der Nichterfüllung der Produktionspläne in einer Reihe von Schachtanlagen» (15).

Aber in der Folgeperiode erfolgte bereits die nächste Abnahme: nach 1942 verminderte sich die Zahl der nach dem Ukas vom 26. Juni vorgenommenen Verurteilungen unaufhörlich bis zum Ende der Stalin-Epoche. Nichtsdestoweniger diente der Ukas während des Krieges als Hauptquelle des „Verbrechertums“ in der UdSSR, das durch die Gerichte abgeurteilt wurde. Für Arbeitsbummelei und eigenmächtiges Verlassen der Arbeitsstelle in Unternehmen und Behörden wurden in den Jahren 1941-1945 insgesamt 42,1% aller Gerichtsurteile zu Kriegszeiten verhängt (1,08 Millionen Menschen wegen eigenmächtigen Verlassens und 5,66 Millionen wegen Zuspätkommens / Bummelei) (s. Tabelle 3).

Es ist ganz klar, daß bei einer derart großen Anzahl von Arbeitern, Angestellten und Beamten, die ein Gerichtsverfahren durchlaufen sollten, zumindest ganz formell einige nichttraditionsgemäße Arbeitsweisen innerhalb der Gerichtsmaschinerie angewendet werden mußten. Andernfalls wäre es nicht möglich gewesen, Millionen von Menschen nach der „gewohnten Gerichtsordnung“ zu verurteilen. Der Tatbestand der äußerst originellen Methoden, die im Innern der Strafprozeßordnung geboren wurden, äußert sich darin, daß in den größten Industriebezirken des Landes einige Gerichtsbereiche (Volksgerichte) der direkten „Betreuung“ durch die größten Industrieunternehmen, Bauprojekte und Schachtanlagen übergeben wurden. Im Gebiet Nowosibirsk schuf die Justizbehörde beispielsweise im Jahre 1942 ein ganzes Netz von Gerichten „mit besonderer Zuständigkeit“ – „zur Bedienung von Unternehmen der Rüstungsindustrie und zur Lenkung von Verfahren, in denen es ausschließlich um Zuspätkommen zur Arbeit » geht: 6 von ihnen waren in Nowosibirsk in Betrieb, 1 – in Prokopjewsk, 1 – in Stalinsk, 1 – in Kemerowo. Im Verlauf einer 1942 in Nowosibirsk vom Volkskommissariat der Justiz der RSFSR durchgeführten Revison, wurden diese gerichtlichen „Sonderbereiche“ als illegal anerkannt und sogar aufgehoben, aber bald darauf erneut eingesetzt. 1943 stieg ihre Zahl noch weiter an: allein in Nowosibirsk gab es 8 Gerichte mit „besonderer Zuständigkeit“ (16).

In dem Bestreben, das gesellschaftliche Prestige des Ukas aufzuwerten, unternahm die Landesführung Versuche, ihm einen noch spürbareren materiellen Charakter zu verleihen. Auf Anordnung des Rates der Volkskommissare der UdSSR vom 18. Oktober 1942 wurde in Bezug auf Personen, die diesem Ukas zuwider handelten ein zusätzliches Strafmaß eingeführt: nach dem Verhängern des Schuldspruchs soll der Bummelant nun auch noch mit einer Minderung der Brotnorm bestraft werden. Allerdings ist es schwierig darüber zu urteilen, inwieweit und wie genau diese Forderung in der Praxis erfüllt wurde. Eine Reihe von Mitteilungen örtlicher Organisationen bestätigen die recht bescheidene Anwendung dieser Maßnahme. Das Stalinsker Stadtkomitee der WKP (B) teilte mit, daß im Kusnezker Metallkombinat im Januar 1943 «375 Personen wegen Zuspätkommens verurteilt worden sind, während bei nur 173 von ihnen auch die Brotration geschmälert wurde; im Februar hätte man bei 175 von insgesamt 289 Verurteilten die Brotnorm gesenkt (17). Im weiteren Verlauf ging die Bestrafung durch Hunger offenbar gegen Null, und im Sommer 1945 berichtete die Justizbehörde der Region Nowosibirsk: «Kein einziges Gericht befaßt sich mit der Überprüfung der tatsächlichen Erfüllung der Anordnung des Rates der Volkskommissare der UdSSR vom 18. Oktober 1942 über die Minderung der Brotnorm ab der Verhängung des Urteils» (18).

Die massenhafte, ungeordnete Verurteilung von Werktätigen zu unterschiedlichen Strafen nach dem Kriminalrecht stellte die bedeutendste Charakteristik des in Kraft befindlichen Ukas dar. Wie jede politisierte Maßnahme, konnte der Kampf um seine strikte Einhaltung und Durchführung nicht bis ins letzte Detail den Ruf nach strengen Gesetzesnormen herbeiführen, und zur Erreichung des erwarteten Effekts waren ein ständiger Druck und eine andauernde Kontrolle auch von Seiten der Landesführung notwendig. Daher hielten es viele Unternehmensdirektoren, denen ebenfalls eine strafrechtliche Verfolgung „wegen der Nichtergreifung von Maßnahmen im Kampf gegen Verletzer der Arbeitsdisziplin“ drohten, es für unerläßlich, einzelne Bummelanten, und man chmal sogar ganze Gruppen von Mitarbeitern, an die Gerichte auszuliefern, ohne dabei die geringste Aufmerksamkeit für die möglichen Gründe eines solchen Verhaltens, einer derartigen Verletzung der Disziplin, in Augenschein zu nehmen. So ein „listenmäßige“ und häufig vollkommen unbegründete Vorgehensweise bei der Einleitung von Gerichtsverfahren wurde zum Anlaß der Kritik an den Unternehmenschefs seitens der Rechts- und Parteiorgane. Sie führte sogar zu einer steigenden Anzahl von Verfahrenseinstellungen und Freisprüchen an den Gerichten. In den Kohlerevieren und Rüstungsbetrieben West-Sibiriens machte beispielsweise in der ersten Hälfte des Jahres 1942 der Anteil der Freisprüche und Einstellungen von Verfahren, die aufgrund des Ukas eingeleitet worden waren, 12-14% der Berugungsverfahren aus (19). In cder Region Krasnojarsk wurden im ersten Jahre nach Inkrafttreten des Ukas (bis August 1941) 5 843 Personen bzw. 14,5% der in Berufung gegangen Personen freigesprochen. «Ganz ähnlich verhält es sich mit der unbegründeten Einleitung von Strafverfahren, – hieß es in einem Bericht der regionalen Justizbehörde, – die sowohl als Folge mangelnden Verständnisses seitens der Administratoren an den Kernpunkten des Gesetzes in Erscheinung tritt, als auch aufgrund einer Reihe von offensichtlichen Elementen zur Sicherung der eigenen Person. Es gibt immer noch Administratoren, die keinerlei Verantwortung übernehmen können oder wollen, wenn sie jemanden vor Gericht stellen …., sondern es vielmehr vorziehen, diese Verantwortung voll und ganz auf die Schultern des Gerichts zu legen, nach dem Mooto: es ist immerhin besser, jemanden in strenger Form „zurechtzubiegen“, als „die Zügel zu locker zu lassen“. (20).

Aber die Situation an den Gerichten selbst war noch viel kritischer. Genau wie in den Unternehmen herrschte auch hier das Prinzip der zweifachen Absicherung. Da in den laut Ukas eingeleiteten Verfahren nach einer vereinfachten Verfahrensweise vorgegangen wurde, und zwar ohne vorhandene Anklageschrift und Verteidigung, und sie auch keine vorausgehenden Ermittlungen erforderten, besaß ihr Durchlauf an den Gerichten den Charakter einer Fließbandabwicklung. Der unglaubliche Hang zur Vereinfachung und Schlamperei während der ganzen Gerichtsprozedur und dem formellen Herangehen an menschliche Schicksale wurde für viele Gerichtsmitarbeiter zur Norm. Außerdem existierte die sehr gängige Praxis, daß Fälle von Verletzung der Arbeitsdisziplin, „in absentia“ verhandelt wurden, und zwar immer dann, wenn es der Miliz nicht gelungen war, den Verantwortlichen zur Gerichtsverhandlung vorzuführen.

Das von „oben“ vorgeschriebene Herangehen an den Ukas vom 26. Juni, welches seine unmittelbaren Vollstrecker dazu veranlaßte, die Zahl der verhängten Urteile zu erhöhen, hätte auf natürliche Weise auch zu einer noch höheren Opferzahl gerichtlicher Willkür führen können, wenn das Rechtssystem nicht über eine entsprechende Kontrollaufsicht verfügt hätte.

Nachdem sie eine Vielzahl himmelschreiender Übertretungen, hauptsächlich im Hinblick auf die Verfahrensweise sowie Verletzungen formeller Art begangen hatten, unterdrückten die Richter der Aufsichtsinstanzen häufig die Anklageflut ihrer in den Gerichten niederer Instanz. Wie die Statistik beweist, wurden in Verfahren, die mit dem Ukas vom 26. Juni in Zusammenhang standen, wurde ein Großteil der Urteile, gegen die man Berufung eingelegt hatte – bis zu 60% - wieder außer Kraft gesetzt. In den Gerichten der Region Nowosibirsk wurden so beispielsweise in der zweiten Hälfte des Jahres 1943 insgesamt 67% solcher Urteile aufgehoben (21). Man darf wohl sagen, daß das System mit einer extrem niedrigen Effektivität arbeitete.

Der außerordentlich hohe Prozentsatz an wieder außer Kraft gesetzten Urteilen spricht vor allem für eine sehr bescheidene Qualität der Gerichtsarbeit während des Krieges.Das war eine besonders auffällige Erscheinung an den Gerichten erster Instanz – den Volksgerichten, denen die Hauptpflicht in puncto Umsetzung der zu Kriegszeiten geltenden Gesetze oblag. Dieser Tatbestand wurde auch durch das Vorherrschen eines spürbaren Mißverhältnisses zwischen der Qualifikation gewöhnlicher Richter und den Mitarbeitern höherer Instanzen bekräftigt. Die Richter der Aufsichtsinstanzen (der republikanischen, regionalen, Gebiets- und Bezirks-gerichte) mußten die groben Rechtsverletzungen nicht Kraft ihrer besonderen Treue gegenüber dem Gesetz, sondern aus Anlaß einer qualifizierteren Erfüllung der gewohnten Berufspflicht. Schließlich ist es auch wichtig, jenen Umstand ins Auge zu fassen, daß Mitarbeiter auf verschiedenen Ebenen der Rechtsprechung auf unterschiedliche Weise politischem Druck ausgesetzt waren: diejenigen, die unmittelbar Urteile verhängten, trugen die größte Verantwortung vor der Staatsmacht; sie standen der realen Politik viel näher und empfanden daher in einem viel schärferen Ausmaß die Bedeutung der Rechtsprechung nach dem Strafrecht.

Wenn man einmal die Gesamtheit aller Gründe betrachtet, welche die Anwender des Ukas dazu veranlaßten, Strafmaßnahmen gegen Menschen zu verhängen, die die Arbeitsdisziplin verletzten, dann scheint die praktische Bedeutung viel schärfer und klarer hervorzutreten. Dokumente berichten von vielfältigen Anlässen, die einem Mitarbeiter die Möglichkeit gaben, sich der Arbeit zu entziehen, sich von ihr fern zu halten, zu bummeln oder eigenmächtig den Arbeitsplatz zu verlassen. Zu einem großen Teil waren dies schwerwiegende materielle Existenzedingungen und das Streben, zu dem kümmerlichen Verdienst, den die Arbeiter und Angestellten für ihre Haupttätigkeit erhielten, eine zusätzliche Verdienstmöglichkeit zu finden. Für ein Leben zu Kriegszeiten waren diese Gründe ganz besonders weit verbreitet.

Die Justizbehörde der Region Nowosibirsk, welche im Sommer 1942 die Gründe für die Ursachen der Disziplinverletzungen in den Kohlerevieren und Rüstungsfabriken des Kusnezker Beckens erforschte, teilte mit, daß bei 2 522 verurteilten Arbeitern (24%), gegen die ein Verfahren wegen Bummelei eingeleitet worden war, der Grund für dieses Verhalten auf mangelndes Schuhwerk zurückzuführen war.Tatsächlich wurde, wie die Behörde mitteilte, in der Stadt Stalinsk (dem Zentrum für Metallurgie im Kusbas) „das Problem in Sachen der Versorgung mit geeignetem Schuhwerk“ in diesem Zeitraum durch die Herstellung von primitiven Schuhen mit Holzsohle oder Fußlappen gelöst“. Des weiteren „erklärten bis zu 50% der qualifizierten Arbeiter des Kusnezker Stalin-Metallurgie-Kombinats ihr Zuspätkommen zur Arbeit damit, daß sie mit der Bearbeitung und Bepflanzung ihrer Gemüsegärten beschäftigt waren“. (22). Recht häufige Gründe für Bummeleien waren auch das Fehlen einer geregelten Buchführung und die sehr schlechte Organisation der Arbeit im Produktionsbereich. Im Laufe der Gerichtsverhandlungen wurde durch die Arbeiter bekannt, daß Trödeleien, Zuspätkommen und eigenmächtiges Sich-Entfernen vom Arbeitsplatz auch deswegen möglich waren, weil man ihnen aufgrund des Verlusts ihrer Arbeitsausweise gar keine konkrete Arbeit bewilligt hatte. Viele junge Arbeiter und Schulabgänger der Betriebsfachschulen ließen ihre Arbeit oft wegen der schlimmen Lebensbedingungen in den Wohnheimen, mangelnder Kleidung und Schuhwerk sowie unzureichender Ernährung im Stich.

Auf diese Weise machte es der Ukas mit Hilfe von Strafandrohung wenigstens gelegentlich möglich, eine Kompensierung der chronischen Mangeerlcheinungen der sowjetischen Wirtschaft möglich,die mit der Organisation von Arbeit und Produktion in den Betrieben und den elementaren Lebensbedingungen der Arbeiter im Zusammenhang standen

Nach dem Überfall Deutschlands in die UdSSR und dem Verlust zahlreicher wichtiger Territorien, wurde der Ukas vom 26. Juni 1940 durch einen neuen, in Bezug auf die Arbeiter noch viel strengeren Rechtsakt ergänzt. Es handelte sich um den Ukas vom 26. Dezember 1941 „Über die Verantwortlichkeit der Arbeiter und Beamten bei eigenmächtigem Verlassen (Desertieren) von Rüstungsunternehmen“, welcher nun alle Mitarbeiter männlichen und weiblichen Geschlechts, die in Branchen tätig waren, die der Landesverteidigung dienten (Flugzeug-, Panzer-, Waffen-Industrie, Militärbevorratung, Kriegsscfiffbau, Kriegschemie), u.a. auch evakuierter Unternehmen sowie anderer Wirtschaftszweige, die der Rüstungsindustrie dienten, zu offiziell Mobilisierten erklärte, die an ihren Betrieb dauerhaft fest gebunden waren. Jegliches Verlassen des betriebs galt fortan als Fahnenflucht (Desertieren) und wurde, wie bereits gesagt, mit einer Gefängnisstrafe von 5 bis 8 Jahren bestraft. Ferner wurden diese Anordnungen durch einen weiteren Ukas vom 11. Juni 1942 auf aklle Arbeiter und Angestellten in den Kohleschächten ausgeweitet, und ab Juli 1942 auch auf die Erdöl- und Erdgas-Industrie (23). Verfahren, die nach diesem Ukas abzuhandeln waren, lagen überwiegend im Kompetenzbereich der Militär- und Transport-Tribunale.

Ein weiteres Feld der breitgefächerten Anwendung von besonderen Gerichts- und Rechtsnormen während des Krieges waren auch die Arbeitsverhältnisse auf dem Lande. Gesetzesgrundlage in diesem Bereich bildeten drei Gesetzesakte, die fast gleichzeitig im Frühjajr 1942 verabschiedet worden waren: die Anordnung des Rates der Volkskommissare und des Zentralkomitees der WKP (B) vom 13. April «Über die Heraufsetzung des Pflichtsolls an Tagesarbeitseinheiten für Kolchosarbeiter“, der Ukas des Präsidiums des Oversten Sowjets der UdSSR vom 15. April „Über die Verantwortlichkeit der Kolchosmitarbeiter wegen Nichterfüllung des absoluten Minimalsolls an Tagesarbeitseinheiten“ und der Ukas vom 15. April „Über die Verantwortlichkeit wegen des Versuchs sich vor der Heranziehung zu landwirtschaftlichen Arbeiten zu drücken oder sich als Mobilisierter eigenmächtig von der Arbeit zu entfernen“.

Die Anordnung des Rates der Volkskommissare der UdSSR und des Zentralkomitees der WKP (B) vom 13. April führte „für die Dauer des Krieges“ eine neue, höher festgelegte Größenordnung für das jährliche Minimum an Tagesarbeitseinheiten für jeden arbeitsfähigen Kolchosbauern ein: bis zu 150 Einheiten in den Baumwollregionen; bis zu 100 – in den moskauer, leningrader und anderen Bezirken des europäischen Landesteils; bis zu 120 – für alle übrigen Bezirke, einschließlich Sibirien. Ein absolutes Minimum für das zu erbringende Arbeitspensum wurde auch für Minderjährige im Alter von 12 bis 16 Jahren festgelegt – nicht weniger als 50 Tagesarbeitseinheiten. Mit dieser Verfügung, und später auch mit dem Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 15. April 1942, wurde die strafrechtliche Verantwortlichkeit „wegen Nichterreichens des festgelegten Minimums“ eingeführt: erzieherische Zwangsarbeiten in der Kolchose für eine Dauer von bis zu 6 Monaten unter Einbehaltung von bis zu 25% dees Lohns zum Nutzen der Kolchose (24).

Der Ukas über das Minimum der Tagesarbeitseinheiten wurde zum zweiten „Gesetz in Kriegszeiten“, nach dem die wohl größte Anzahl sowjetischer Staatsbürger (s. Tabelle 3) verurteilt wurde. Bei der Berwertung des Charakters und der Rolle dieses Rechtsaktes muß man seine spürbare Ähnlichkeit mit den anderen Ukasen zum Arbeitsbereich unterstreichen. Ebenso wie die Realisierung des Ukas vom 26. Juni 1940 über Bummeleien und Zuspätkommen, wurde die Anwendung zu einer völlig ungeordneten Kampagne, die sich bis zum Ende der Regierungszeit Stalins hinzog und deren wesentliche Bedeutung darin bestand, eine Atmosphäre der Angst vor strafrechtlicher Verfolgung wegen des Sichentziehens von der allgemeinen Arbeitspflicht zu schüren. Und zu erhalten. Damit identisch war auch die allgemeine Dynamik der Entwicklung des Ukas: die Anfangsperiode der Kampagne war der höchste Gradmesser für Vorstrafen, nach einigen Monaten vollzog sich ein Rückgang und dann pendelte sich der Index auf einem mittleren Niveau ein.

Aber es gab auch Besonderheiten. Eine davon war, dass es imWesentlichen nur einen einzigen „Frauen“-Ukas gab, den es waren vor allem die weiblichen Dorfbewohner im Alter zwischen 30 und 50 Jahren, die aufgrund des Mangels an männlicher Bevölkerung, die ja an die Front einberufen war, die in ihrer absoluten Mehrheit wegen Nichterfüllung der Mindest-Tagesarbeitseinheiten verurteilt wurden. In der Region Krasnojarsk beispielsweise wurden in den ersten Monaten nach Inkrafttreten des Ukas (Juni-Juli 1942) 1 215 weibliche Kolchos-Mitarbeiterinnen und lediglich 26 Männer verurteilt (25). Ähnliche Verhältnisse herrschten auch in anderen Bezirken Sibiriens.

Nachdem der Ukas vom 15. April 1942 in Kraft getreten war, hatte die politische Landesführung keinen Grund mehr zu der Annahme, dass sie bei den Kolchosvorsitzenden noch mit Unterstützung rechnen könnte. Erstens, weil es den meisten Kolchosen wegen einer nicht vorhandenen, normalen Buchführung gar nicht möglich war, den tatsächlichen Umfang der von jedem einzelnen Kolchosbauern erledigten Arbeiten festzustellen; zweitens stand dem Ukas das System menschlicher Solidarität gegenüber, das im ländlichen Milieu herrschte. Daher waren im Gesetz besondere Strafmaßnahmen für jene Kolchosvorsitzenden und Brigadeleiter vorgesehen, die nicht bereit waren, dem Gericht ihrer Einführung diente eine solche Umsichtigkeit als wichtigster Hebel für die Organisierung von Massen-Gerichtsprozessen über ganz gewöhnliche Kolchosmitglieder. Bereits in den ersten Monaten nach Inkrafttreten des Ukas trafen seitens der Kolchosvorsitzenden vor Gericht nicht nur Materialien über einzelne Bauern ein, sondern sogar über ganze Gruppen – in Form von Listen mit 15-30 Personen und mehr, häufig ohne ausreichende Begründung und Angaben über eine konkrete Schuld. Im August 1942 teilte die Justizbehörde im Gebiet Nowosibirsk mit: „Die regionalen Volksgerichte werden alle Verfahren über nichterfüllte Tagesarbeitseinheiten bei Lokalterminenin den Kolchosen überprüfen. (...) Vereinzelt ließen Volksgerichte die Praxis zu, innerhalb eines einzigen Ermittlungsverfahrens gleich mehrere Personen zusammenzufassen. ... 1. Der Vorstand der Kolchose «Nord» des Mariinsker Dorfsowjets im Wengerowsker Bezirk übergab Materialien von 57 Personen ans Gericht. Bei der vorgerichtlichen Untersuchung all dieser Materialien durch die Volksrichter wurde festgestellt, dass grundsätzlich nur 5 Personen zur Verantwortung zu ziehen waren. 2. Der Vorstand der Kolchose „18. Parteitag“ im Wengerowsker Bezirk legte dem Volksgericht eine Liste mit 14 Kolchosarbeitern vor, wobei aber nur ein einziger Familienname angegeben war. Diese eingerichten Unterlagen wurden zur erneuten Bearbeitung an die Kolchose zurückgesandt...» (26).

Ein ähnliches Bild konnte man auch in den anderen Regionen des Landes beobachten. Die Leiter der krasnokjarsker Justizbehörde berichteten dem Volkskommissariat der Justiz in diesem Zeitraum: «Von den von 11 Kolchosen des Sowjetsker Bezirks bei den Volksgerichten eingegangen Fällen wurden 9 an die Kolchosen zurückgeschickt, denn die dazugehörenden Unterlagen enthielten Listen mit insgesamt 15-20-30 Personen – ohne dass jeder einzelne Kolchosarbeiter zuvor auf der Vorstandssitzung beurteilt worden wäre, ohne Hinweis auf die von ihm erarbeiteten Tagesarbeitseinheiten und ohne Gutachten zur Person“. Die Gerichtsmitarbeiter von Krasnojarsk schrieben zudem auch über solche ungewöhnlichen Fälle, in denen in einer der Kolchoslisten 63 von 100 arbeitsfähigen Kolchosarbeitern aufgeführt waren, die nach dem Ukas verurteilt werden sollten (27).

Die groben und vereinfachten Methoden zur Verwirklichung des Ukas über Tagesarbeitseinheiten spiegelten sich nicht nur in der Massenüberführung von Kolchosarbeitern an die Gerichte wider. Weit verbreitete Erscheinungen waren auch die Verurteilungen jener Dorfbewohner, welche das Gesetz von jeglichen Anklagen freistellte: Schwangere und Frauen mit vielen Kindern, Nichtarbeitsfähige, Minderjährige und Menschen oberhalb des zuläassigen Alters (60 Jahre für Männer und 55 Jahre bei Frauen). Da ist es nur allzu verständlich, daß unter diesen Bedingungen ein Großteil der Urteil keine Bestätigung fand und bei der zusätzlichen Überprüfung für ungültig erklärt wurde. Genau wie in den Fällen mit dem Ukas vom 26. Juni, wurden während der ersten Zeit des Krieges die meisten Urteile, gegen die Einspruch erhoben worden war, annulliert – 55 bis 58% (28), was etwa ein Viertel aller Urteile ausmachte. Im wichtigsten landwirtschaftlichen Bezirk Sibiriens, im Altai, wurden im Jahre 1943 beispielsweise 23,4% der Kolchosmitarbeiter für unschuldig erklärt. Nachdem er die Arbeit des Gerichts begutachtet hatte, schrieb der Revisor des Volkskommissariats der Justiz der UdSSR Liskowez in seinem Rechenschaftsbericht: „Eine derartige Situation, wenn hunderte von Menschen umsonst vor Gericht gestellt werden, zeugt in unzulässiger Weise auch davon, dass die Kolchosvorstände den Gerichten Fälle vorgelegt haben, ohne vorher die Gründe für die Nichterfüllung der Mindest-Tagesarbeitseinheiten zu hinterfragen, und die Volksgerichte haben auf eine so unnormale Erscheinung überhaupt nicht reagiert“ (29).

Von der Entwicklung der Ukas-Rechtsprechung während des Krieges zeugen die in Tabelle 3 und 4 enthaltenen Angaben.

Tabelle 3
Zahl der durch Grichte aller Instanzen nach Ukasen verurteilten Personen während des Krieges 1940-1945 (in der UdSSR)

> Ukas vom 26.04.1940 – (Bahn- und Wassertransport, sowie laut §193-7 Punkt «B» des Strafgesetzes der RSFSR
Bezeichnung des Ukas   Zeitraum Verurteilt durch Gerichte allgemeiner Zuständigkeit Verurteilt durch Verkehrs-und Bezirks- gerichte sowie Militärtribunale Verurteilt durch Militär-Tribunale der sowjetischen Armee, der Kriegs-Seeflotte und der Truppen des NKWD Gesamt
Ukas vom 26.04.1940 – (Bahn- und Wassertransport, sowie laut §193-7 Punkt «B» des Strafgesetzes der RSFSR Eigenmächtiges Sichentfernen aus dem Unternehmen oder aus der Behörde 1940 321.648 - - 321.648
1941-1945 1.073.664 7.257 - 1.080.921
gesamt 1940-1945 1.395.314 7.257 - 1.402.569
Bummelei (eigenmächtige, vorübergehende Abwesenheit) 1940 1.769.790 - - 1.769.790
1941-1945 5.603.917 62.567 - 5.666.484
gesamt 1940-1945 7.373.707 62.567 - 7.436.274
Ukas vom 28.04.1940 (Verletzung der Disziplin und eigenmächtiges Verlassen von Handwerkerschulen, Eisenbahn-Fachschulen und Betriebsfachschulen) 1941-1945 50.179   - 50.179
Ukas vom 26.12.1941 (Bahn- und Wassertransport, sowie laut §193-7 Punkte«C» und «D» des Strafgesetzes der RSFSR) - (Desertieren aus Rüstungsbetrieben sowie Unternehmen des Bahn- und Wassertransportwesens) 1942-1945 38.572 80.254 842.071 960.897
Ukas vom 13.02.1942 Umgehen der Arbeitsmobilmachung im Produktions- und Baugewerbe) 1942-1945 21.786 - - 21.786
Ukas vom 15.04.1942. (Umgehen der Arbeitsmobilisierung innerhalb der Landwirtschaft) 1942-1945 91.246 - - 91.246
Ukas vom 15.04.1942 (Nichterfülling der Mindest-Tagesarbeitseinheiten) 1942-1945 679.286 - - 679.286
Insgesamt verurteilt nach Ukasen während des Krieges 1940 2.091.438 - - 2.091.438
1941-1945 7.558.650 150.078 842.071 8.550.799
gesamt 1940-1945 9.650.088 150.078 842.071 10.642.23

Quelle: Staatsarchiv der Russischen Föderation. Fond 9492, Verz..6s, Akte 14, Blatt 9.

Die Vollständigkeit dieser Angaben des Volkskommissariats der Justiz der UdSSR muß zweifelsohne in Frage gestellt werden, denn die einfache Aufstellung der Ukase, nach denen Staatsbürger einer Verurteilung ausgesetzt waren, ist hier nicht in vollem Umfang aufgeführt. Zumindest sollten dann noch einige weitere Ukase Berücksichtigung finden, die weitere hundert oder sogar tausend Verurteilte hervorgebracht haben. Unter ihnen sind besonders gut bekannt: der Ukas vom 6. Juli 1941 «Über strafrechtliche Verantwortung wegen der Verbreitung falscher Gerüchte zu Kriegszeiten, die in der Bevölkerung Beunruhigung auslösen», das eine Gefängnishaft von 2 – 5 Jahren vorsah; der Ukas vom 19. April 1943 «Über die strafrechtliche Verantwortung deutsch-faschistischer Eindringlinge und ihrer Handlanger» (das sogenannte «Gesetz über Kriegsverbrechen»), nach dem eine große Anzahl repatriierter Staatsbürger verurteilt wurden, einschließlich Akteure der weißen Bewegung (30), sowie eine Reihe weiterer Ukase.Ob nach diesen Ukasen verurteilte Personen in der allgemeinen Statistik enthalten sind und welche Rolle die aufgeführten Rechtsakte in den Kriegsjahren tatsächlich spielten – das muß im Verlauf weiterer Forschungen erst noch ermittelt werden.

Auf diese Weise unterschied sich die Strafrechtsprechung in der UdSSR während des Krieges durch ihre große Schwingungsweite und Konzentriertheit vor allem im Bereich der Arbeitsverhältnisse. Sie erstreckte sich hauptsächlich auf jene Bevölkerungskategorien, deren Arbeit von besonders großem Wert war: Arbeiter in der Verteidigungs- und Rüstungsindustrie, Bahnarbeiter, Bergleute und Kolchosbauern. Beim Fehlen ernsthafter wirtschaftlicher Anreize waren die gerichtlichen Verfolgungen und allein die Androhung ihrer Anzuwendung für Millionen Staatsbürger ein hinreichender Beweggrund zur Arbeit. Der Einfluß der «Gesetze in Kriegszeiten» war außerordentlich groß und langanhaltend. Die wichtigsten unter ihnen, wie die Ukase vom 26. Juni 1940, 26. Dezember 1941 und 15. April 1942 und andere blieben auch nach dem Kriege noch inkraft und erhöhten damit die Vorstrafen-Statistiken im Lande in erheblichem Maße. Sie wurden erst in den 1950er Jahren abgeschafft.

Abschließend müssen noch Angaben angeführt werden, die es gestatteten, eine gewisse verallgemeinernde Bewertung des Stellenwertes und der Rolle der sowjetischen Rechtsprechung in den Jahren des Weltkrieges abzugeben – und zwar im Vergleich zu anderen Zeiten der Sowjetepoche.

Tabelle 5
Allgemeine Anzahl der Verurteilten durch die verschiedenen Gerichte im Zeitraum 1941-1945 (in der UdSSR)

Jahre Verurteilt vom Militär-kollegium des Obersten Gerichts der UdSSR (wegen konterrevolutionärer Verbrechen) Verurteilt von Gerichten allgemeiner Zuständigkeit (mit Korrektur der unvollständigen Registrierung) Verurteilt von Verkehrs- und Bezirksgerichten sowie den Militär-Tribunalen der Eisenbahn und des Wasser-Transportwesens* Verurteilt von Militärtribunalen der sowjetischen Armee, der Kriegs-Seeflotte und der Truppen des NKWD Gesamt
1941 1.426 3.108.259 55.928 216.142 3.381.755
1942 72 2.818.826 76.563 686.562 3.582.023
1943 60 2.405.509 89.780 727.207 3.222.556
1944 123 2.449.386 96.120 543.745 3.089.374
1945 273 2.297.215 87.615 357.007 2.742.146
Gesamt 1941-1945 1.954 13.079.195 406.042 2.530.663 16.017.854
im Jahres-Durch-schnitt 391 2.615.839 81.208 506.132 3.203.570

Anmerkung: * 1942-1945 – ohne Angaben über Eisenbahntruppen.
Quelle: Staatsarchiv der Russischen Föderation, Fond 9492, Verz. 6s, Akte14, Blatt 7.

Tabelle 6
Allgemeine Verurteiltenzahlen in den Jahren 1937-1956 in der UdSSR
(pro 1000 Pers.)

Jahre Verurteilt von Gerichten allgemeiner Zuständigkeit (mit Korrektur der unvollständigen Registrierung) % Verurteilt von Sondergerichten (einschließlich Militärtribunale)* % Gesamt Davon aufgrund von Verfahren, die nach zu Kriegszeiten geltenden Ukasen verhandelt wurden %
1937-1940 7.105,0 100,0 keine Angaben - 7.105,0 2.091,4 29,4
1941-1945 13.079,2 81,7 2.938,6 18,3 16.017,8 8.550,8 53,3
1946-1952 14.030,9 90,0 1.566,7 10,0 15.597,6 6.371,9 40,9
1953-1956 4.386,3 94,4 260,9 5,6 4.647,1 947,3 20,4
Èòîãî 38.601,3 89,0 4.766,2 11,0 43.367,5 17.961,4 41,4

Anmerkung: * In den Verfahren über konterrevolutionäre Verbrechen sind auch Angaben des Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR enthalten.
Quelle: Staatsarchiv der Russischen Föderation, Fond 9492, Verz. 6 s, Akte 14, Blatt 6.

Anmerkungen:

1) Das sowjetische Recht während des Großen Vaterländischen Krieges. Teil II. Strafrecht. – Strafprozeß. Unter der Redaktion von I.T. Goljakow. – Ìoskau, 1948, S.31.
2) Gesetzliche und administrativ-rechtliche Akte zu Kriegszeiten. Vom 22. Juni 1941 bis zum 22. März 1942 – Ìoskau, 1942, S.78-79.
3) S. dazu Sonderbericht: S.A. Papkow. «Konterrevolutionäre Kriminalität» und ihre besondere Unterdrückung in Sibirien in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges (1941-1945). // Der Ural und Sibirien in der stalinistischen Politik. – Nowosibirsk, 2002, S.205-223.
4) Staatsarchiv der Region Nowosibirsk, Fond R-1027, Verz. 9, Akte , Blatt 172.
5) Staatsarchiv der Region Nowosibirsk, Fond R-1199, Verz. 1-à, Akte 16, Blatt 9.
6) Zentrum für die Verwahrung und das Studium von Dokumenten der neuzeitlichen Geschichte der Region Krasnojarsk, Fond 26, Verz. 3, Akte 291, Doppelblatt 49-50.
7) Organe der Staatssicherheit der UdSSR im Großen Vaterländischen Krieg. Sammelwerk von Dokumenten. Band 2. Buch 2. Anfang. 1 September-31 Dezember 1941. – Ìoskau, 2000, S.331.
8) Ebenda, S.334.
9) Staatsarchiv der Region Altai, Fond R-1736, Verz.1s, Akte 23, Blatt 21.
10) Staatsarchiv der Region Nowosibirsk, Fond R-20, Verz. 4, Akte 8, Blatt 1.
11) Eingehendere Analyse der Wirksamkeit des Ukas vom 26. Juni 1940 in der Zeit vor dem Krieg sind enthalten in dem Buch: Piter Solomon. Sowjetische Justiz unter Stalin. – Ìoskau, 1998, S.291-313.
12) Staatsarchiv der Russischen Föderation, Fond 9492, Verz .6s, Akte 14, Blatt 15. (Statistik der Verurteilungen in der UdSSR).
13) Staatsarchiv der Region Nowosibirsk, Fond R-1027, Verz. 9, Akte 5, Blatt 123-124.
14) Ebenda, Blatt 123, 125.
15) Staatsarchiv der Region Nowosibirsk, Fond R-1199, Verz.1-à, Akte 18, Blatt 25.
16) Staatsarchiv der Region Nowosibirsk, Fond R-1199, Verz.1-à, Akte 18, Blatt 137; Verz.2, Akte.4, Blatt 2.
17) Staatsarchiv der Region Kursk, Fond P-75, Verz.1, Akte 39, Blatt 3.
18) Staatsarchiv der Region Nowosibirsk, Fond R-1199, Verz. 2, Akte 22, Blatt 23 und Rückseite.
19) Staatsarchiv der Region Nowosibirsk, Fond R-1199, Verz. 1-à, Akte 18, Blatt 59, 69, 135.
20) Zentrum für die Verwahrung und das Studium von Dokumenten der neuzeitlichen Geschichte der Region Krasnojarsk, Fond 26, Verz. 3, Akte 8, Blatt 108.
21) Staatsarchiv der Region Nowosibirsk, Fond R-1027, Verz. 9, Akte 13, Blatt 56. Im vorliegenden Fall ist lediglich die Rede vonder Kategorie von Gerichtsverfahren, die zu Aufsichtszwecken eingehnd untersucht wurden oder gegen die Einspruch erhoben wurde. Der weitaus größte Teil der Urteile wurde ohne besondere Aufsichtsprüfung bekräftigt, d.h. so, wie sie aus den Entscheidungen der Voksgerichte hervorgingen. In Bezug auf die allgemeine Zahl der Urteile betrugen die Freisprüche und Aufhebungen 9-12%. (Staatsarchiv der Region Nowosibirsk, Fond R-1199, Verz..1-à, Akte 18, Blatt 28; Fond R-1027, Verz. 9, Akte 11, Blatt 33).
22) Staatsarchiv der Region Nowosibirsk, Fond R-1199, Verz.1-a, Akte 18,Blatt 27-28.
23) Das Sowjetrecht während des Großen Vaterländischen Krieges. Teil II, S.84-85.
24) Sozialistische Rechtmäßigkeit, 1942, ¹ 8, S.1-2; Das Sowjetrecht während des Großen Vaterländischen Krieges. Teil I. Bürgerrecht. – Arbeitsrecht. Unter der Redaktion von I.T. Goljakow. – Ìoskau, 1948, S.227.
25) Staatsarchiv der Region Krasnojarsk, Fond R-1736, Verz.1s, Akte 23, Blatt 136 und Rückseite.
26) Staatsarchiv der Region Nowosibirsk, Fond R-1199, Verz.1-à, Akte 18, Blatt 56-57.
27 Staatsarchiv der Region Krasnojarsk, Fond R-1736, Verz.1s, Akte 23, Blatt 138 und Rückseite, 69.
28) Ebenda, Blatt 140.
29) Staatsarchiv der Russischen Föderation Fond 9492, Verz.1, Akte 453, Blatt 3 und Rückseite.
30) s. M.W. Koschewnikow. Die Geschichte des sowjetischen Gerichts. – Moskau, 1948


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