Nachrichten
Unsere Seite
FAQ
Opferliste
Verbannung
Dokumente
Unsere Arbeit
Suche
English  Ðóññêèé

Teilnehmer am Lageraufstand 1953-1954 im Oserlag

O.W. Afanasow
Staatliche Universität Irkutsk

Im Unterschied zum Gorlag, Petschlag, Steplag und anderen Sonderlagern wurden im Oserlag nach Stalins Tod keine groß angelegten Protest-Aktionen seitens der Häftlinge durchführt – möglicherweise als Folge seiner abgeschiedenen, weit entfernten Lage und der Verstreutheit seiner einzelnen Nebenlager entlang der Bahntrasse Tajschet – Lena, aber wohl auch aufgrund seiner geringen Belegung (500 – 1000 Mann). Nichtsdestoweniger fanden die in den Lagern von Norilsk, Workuta und Kengir stattgefundenen Ereignisse auch im Oserlag einen gewissen Widerhall.

Im Laufe des Jahres 1954 trafen Züge mit Gefangenen im Oserlag ein, die an den Lageraufständen jener Zeit teilgenommen hatten. Im Frühjahr 1954 wurden aus dem Wladimirsker Gefängnis 450 „Aktive“ aus dem Retschnij und Gornij Lager ins Oserlag abtransportiert, die dort „am Massenungehorsam gegen die Administration“ beteiligt gewesen waren1. Nach Aussagen des mit dieser Etappe angekommenen G.S. Klimowitsch gerieten sie dort sofort unter unverwandte, strengste Beobachtung seitens der Lager-Verwaltung. Kurz nach ihrer Ankunft in der 5. Lageraußenstelle des Oserlag bat der Lagerleiter, Oberst Jewstignejew mit seinem Gefolge darum, diese Leute persönlich zu sehen und dann zu entscheiden, wie man mit ihnen zukünftig verfahren sollte. Die neu eingetroffene Häftlingspartie verlangte unverzüglich die Umsetzung der GULAG-Instruktionen über die Einführung des allgemeinen Lagerregimes in den Außenstellen, worauf die Lagerleitung des Oserlag nach „entsprechendem“ Muster reagierte – 70 Mann wurden ins Irkutsker Gefängnis verbracht, in dem eine strenge Haftordnung herrschte, etwa 200 Personen kamen für drei Monte in den Straf-Isolator; „dann wurden die völlig Abgemagerten entlassen und alle zusammen zum Außenlager 307 gebracht (Sonderlagerpunkt mit strengem Regime. – O.A.)“2.

Mit „besonderer Aufmerksamkeit“ nahm die Lager-Verwaltung auch die nachfolgenden Etappen von gefangenen Aufstandsteilnehmern auf, darunter auch Frauen. Die polnische Oserlag-Gefangene G. Lipinskaja erinnerte sich daran, wie im Juli 1954 insgesamt 16 Mädchen aus dem Steppen-Lager zu ihnen kamen, die unter verschärfter Bewachung in eine Einzelbaracke geführt und darin eingeschlossen wurden; aber bereits zwei Tage später teilte man sie den Brigaden zu und führte sie zur Arbeit aus3.

Allerdings hatten nicht alle im Oserlag angekommenen Häftlinge die Absicht arbeiten zu gehen. Einige Gefangene, deren Widerstandsgeist weder durch die grausame Niederwerfung der Aufstände, noch die nachfolgenden Untersuchungsverfahren oder das eiserne Gefängnisregime hatte gebrochen werden können, fuhren auch im Oserlag fort, gegenüber der Administration Widerstand zu leisten. Bei seiner Rede anläßlich der Versammlung des Partei-Aktivs (22.-23. Dezember 1954) verkündete der Lagerleiter des Oserlag, Oberst Jewstignejew, daß in der 3. Lageraußenstelle (Siedlung Ansebi, Bratsker Bezirk. – O.A.) „die Häftlinge, die unter strengem Lager-Regime gehalten werden, für lange Zeit nicht zur Arbeit gehen, sich unverschämt betragen .... Die überwiegende Mehrheit dieser Gefangenen waren auch Teilnehmer an den Massen-Bummeleien in Norilsk und Workuta; ein Teil von ihnen wurde bereits unter verschärften Gefängnisbedingungen gehalten ... Die schlimmsten von ihnen müßte man eliminieren, ihnen offizielle Papiere ausstellen und sie dem Gefängnisregime unterstellen; beim Rest muß eine verschärfte, qualifizierte Erziehungsarbeit geleistet werden“4.

Davon sprach auch Spiwak, der Leiter der 3. Lagernebenstelle: „In der Nebenstelle gibt es Fälle von Arbeitsverweigerungen und Verletzungen der Lagerordnung von Seiten der Gefangenen. Es gibt eine Menge Häftlinge aus dem Norillag, dem Steppenlager und anderen, die sich früher bereits an Bummeleien beteiligt haben. 120 von ihnen gehen überhaupt nicht zur Arbeit, am Lagerpunkt 307 befassen sie sich mit konterrevolutionären Aktivitäten und bedrohen die Lager-Verwaltung ... 20-25% dieser Häftlinge können offiziell ins Gefängnisregime überstellt werden“5. Insgesamt stieg die Zahl der Arbeitsverweigerer im Oserlag zwischen August und November 1954, im Zeitraum der „Aktivseins des übelsten Teils der Häftlinge“, um mehr als das Vierfache an und machte im August durchschnittlich 60 Mann täglich aus; im September waren es 207, im Oktober 197, im November 2656.

Für ihren Widerstand gegen die Lagerverwaltung des Oserlag wandten die Teilnehmer des Aufstands auch aktivere Formen des Protests an – so organisierten sie Brandstiftungen an Industrieobjekten, riefen andere Gefangene zu Massen-Ungehorsam auf, teilweise auch mit Zwangsmethoden. Wie der Leiter der Regionsbehörde für innere Angelegenheiten Doschlow auf der bereits erwähnten Sitzung des Partei-Aktivs des Oserlag angab, wurde eine Gruppe Häftlinge aus den Reihen des norilsker Kontingents zum 19. Lagerpunkt verlegt (es bediente das Tschunsker Holzverarbeitungskombinat. – O.A.), die, kaum daß sie im Lager eingetroffen war, bereits anfing, die aufrichtig arbeitenden Häftlinge zu terrorisieren, sie zu verprügeln und zum Ungehorsam gegen die Lagerverwaltung aufzuwiegeln“7. Übrigens wurde auf dem Gelände eben dieses Holzkombinats im November 1954 ein Brand an zwei Industrieobjekten gelegt, an dem man „ukrainische Nationalisten“ und andere „feindlich gesinnte Häftlinge“ beschuldigte8. Massenungehorsam wurde auch am Lagerpunkt 043 organisiert, und im Januar 1955 weigerte sich das gesamte „Kontingent“ des 6. Lagerpunktes, der das Ziegelwerk bediente, für insgesamt zwei Tage zur Arbeit zu gehen9.

Ungefähr zu der Zeit gab es auch eine Widerstandsaktion im 2. Lagerpunkt (Zentrales Krankenhaus N° 1). P.I. Nabokow, Zeuge dieser Ereignisse, erinnerte sich: „Man hört Berichte über langandauernde Massen-Hungerstreiks in den Lagerpunkten 307, 308 und anderen Außenstellen des Oserlag. Hier am 2. haben ukrainische Gefangene das Kommando; sie haben sich ihre Partisanen-Methoden bewahrt. Wir, die Moskauer, erledigen alle einfachen Tätigkeiten. Am Morgen stelle ich den Wachdienst ein und lege mich schlafen. Plötzlich Schüsse aus einem Automatik-Gewehr, Lärm in der Lagerzone, lautes Geschrei. Aufseher und Denunzianten rennen zur Wache ... Wir sitzen in unseren Baracken; es ist besser, wenn wir uns nicht hinauslehnen, sonst können sie uns von ihren Wachtürmen aus sehen. Sie schießen aufeinander. Wir schauen hinaus. Da geht gerade eine mutiger Kerl mit einer weißen Fahne in Richtung Wachhäuschen: „Wir fordern Gerechtigkeit und die Überprüfung aller Akten und Verfahren der Repressierten; wir verlangen, dass Vertreter des Zentralkomitees und der Staatsanwaltschaft hierher kommen!“ Sie antworten uns per Megaphon: Wollt ihr vielleicht auch noch, dass der Papst aus Rom hier erscheint? - Na ja, und dann die üblichen Beiwörter. Die Wachen auf den Türmen üben ihre Macht aus. Wieder schießen sie. Wir befinden uns nun schon den zweiten Tag im Belagerungszustand. Die Wachen schweigen ... Unterstützung aus dem benachbarten Sonderlagerpunkt ist nicht zu erwarten; die Verbindung ist unterbrochen. Das Licht der Projektoren gleitet über die Lagerzone. Die Schützen befinden sich auf ihren Plätzen. Nach drei Tagen kamen dann doch noch Beamte in ihrer Generalskleidung. Sie zeigten uns Dokumente, ermahnten uns, machten Versprechungen, versuchten zu überzeugen. Aber sie erfüllten ihre Aufgabe nicht. Die Aufseher kehrten in die Zone zurück... Man hat damals keinen dafür bestraft“10.

Der Ungehorsam der Gefangenen in den einzelnen Lageraußenstellen des Oserlag zog sich bis zum Jahr 1956 hin, als, im Zusammenhang mit einer Amnestie und der Arbeit der Kommission des Obersten Sowjets der UdSSR, die Massenfreilassungen von Häftlingen begannen. Im Rechenschaftsbericht der politischen Abteilung für das erste Halbjahr 1956 heißt es, dass „am Lagerpunkt 307 mit verschärftem Regime, in dem Häftlinge wehen konterrevolutionärer Verbrechen einsitzen, viele Gefangene sich systematisch weigern zur Arbeit zu gehen und Maßnahmen der Administration und des Politapparates sabotieren. Zu Beginn des Jahres fand in dieser Lagerzone ein Massenhungerstreik statt. Mit Ankunft einer Kommission des Obersten Gerichts im Lager änderte sich die Stimmung der Gefangenen schlagartig; sie gingen wieder zur Arbeit, die allgemeine Disziplin festigte sich wieder“11.

Jedoch kamen nicht alle Teilnehmer an den Lageraufständen in den Genuß der Amnestie oder einer vorzeitigen Entlassung; die Aktivsten von ihnen blieben auch in den Folgejahren im Oserlag in Strafhaft. Laut Bescheinigung „Über die durchzuführende politische Erziehungsarbeit unter den wegen besonders gefährlicher Verbrechen gegen den Staat Verurteilten“ wurden im Januar 1960 am Sonderlagerpunkt mit besonders strengem Regime N° 4-42 „A“ insgesamt 56 Mann, überwiegend „Autoritätspersonen“, „Organisatoren des Massenungehorsams“ in den Lagern Workuta, Norilsk, Magadan in andere ehemalige Sonderlager verlegt12. Im Laufe des Folgejahres 1961 wurden alle Häftlinge des Arbeits- und Erziehungslagers Oserlag, die wegen „konterrevolutionärer Verbrechungen“ verurteilt worden waren, in andere Strafeinrichtungen außerhalb des Irkutsker Gebiets verlegt.

In welche Regionen und Haftorte die restlichen inhaftierten Teilnehmer am Massenungehorsam aus dem Arbeits- und Erziehungslager Oserlag geschickt wurden, muß erst noch geklärt werden; auch das weitere Schicksal zahlreicher Menschen aus dieser Gruppe, die in dieser Zeit in die Freiheit entlassen wurden, ist bislang unbekannt. Ebenfalls offen bleibt die Frage über die allgemeine Anzahl der Häftlingsetappen, die Anzahl und die Zusammensetzung der Gefangenen, die an den Lageraufständen teilnahmen und Mitte der 1950er Jahre im Oserlag eintrafen. Nichtsdestoweniger kann man schon jetzt mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass die Ankunft der Häftlinge dieser Kategorie im Oserlag eine merkliche Spur in seiner Geschichte hinterließ. Das Auftauchen standhafter, ungebrochener Menschen in den Oserlag-Außenlagern, die es verstanden, im Kampf dennoch ihre Person vor dem Verderb zu bewahren, förderte den Anstieg des Selbstbewußtseins beim übrigen Teil der Gefangenen und führte zu einem aktiven sozialen Protest der Oserlag-Häftlinge in dem angegeben Zeitraum.

Anmerkungen:

1 Dokumentationszentrum für neuzeitliche Geschichte der Region Irkutsk (im weiteren IZ NGRI genannt), Fond 5342, Verz. 1, Akte 287, Blatt 4; Oserlag: wie es war. – Irkutsk, 1992. – S. 20.
2 Oserlag; wie es war. – S. 20, 22.
3 G. Lipinska. Wenn ich mich an sie erinnere. – Paris, 1988. – S. 72.
4 IZ NGRI, Fond 5342, Verz. 1, Akte 284, Blatt 7.
5 Ebenda, Blatt 31.
6 Ebenda, Blatt 6.
7 Ebenda, Blatt 38.
8 Ebenda, Akte 289, Blatt 6; Akte 284, Blatt 6.
9 Ebenda.
10 P.I. Nabokow. Aus den handschriftlichen Erinnerungen // Widerstand im GULAG. – Moskau, 1992. – S. 217.
11 IZ NGRI, Fond 5342, Verz. 1, Akte 435, Blatt 6.
12 Ebenda, Akte 638, Blatt 44.

Informationen über den Autor
Oleg Wladimirowitsch Afanasow – Aspirant am Lehrstuhl für zeitgenössische vaterländische Geschichte an der Histroischen Fakultät der Staatlichen Universität Irkutsk.
E-mail: mimo@hist.isu.ru

Unbekannte Veröffentlichung.


Zum Seitenanfang