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Filipp Siwatzkij . Die Emigration von Gläubigen aus der UdSSR in den sechziger bis achtziger Jahren (am Beispiel der Pfingstkirchen-Organisationen in der Region Krasnojarsk)

Im Sowjetstaat wurde die Religion als Resterscheinung, als Überbleibsel vorsozialistischer Formationen angesehen, und jegliche Bekundung von Religiosität seitens der Protestanten als Ergebnis der Beeinflussung durch westliche Propaganda. Das führte zu Änderungen in der Politik in Bezug auf die Sekten und lief, natürlich, auf deren Vernichtung aus.

Zu einer der Folgen der Unterdrückung durch die Staatsmacht kann man die Emigrationsstimmung unter den Gläubigen der Pfinstgemeinden zählen. Besonders scharf kristallisierte sich diese Problematik in der Stadt Tschernogorsk heraus, wo die Emigrationsbereitschaft einen erheblichen Teil döer Gläubigen erfaßte. Folgende Gründe wurden für die Emigration angegeben: „Die Gläubigen haben bei uns nicht die Freiheit zu beten, wir werden alle verfolgt, wir sind Strafen ausgesetzt, und man droht uns mit Verurteilungen ..... unsere Heimat ist im Himmel“. Die Pfingstler sagten, dass es unmöglich wäre, in einem derart atheistischen Staat die Religion auf der vollständigen Grundlage des Evangeliums auszuleben, einem Staat, der die organisierte Unterweisung der Kinder nach den Vorschriften des Herrn verböte, usw.

Fünf Briefe über ihre Abreise ins Ausland, die bereits im Jahre 1964 von tschernogorsker Pfinstlern verfaßt wurden, erreichten die Machtorgane. Eine ähnliche Situation wiederholte sich 1967. Nachdem die Behörden zunächst die Bitten um das Verlassen des Landes abgelehnt und bei einigen Gläubigen administrative Maßnahmen zur Einflußnahme auf die Sekte ergriffen hatten, erfolgte die Verweigerung ihnen Reisepässe auszustellen. Die Gläubige K.A. Petrowa schrieb: „Wir wollen nicht länger Ihre Staatsbürger sein, wenn wir in einem gottlosen Lande leben sollen; wir haben schon viele Kränkungen, Verleumdungen und üble Nachreden ertragen. Am Arbeitsplatz sind wir Lohnkürzungen ausgesetzt, man entzieht uns Vergünstigungen, auf die wir eigentlich Anspruch haben“.

Im Mai 1968 fährt P. Baschtschenko mit vier Kindern nach Moskau und versucht sich bis in die amerikanische Botschaft durchzuschlagen, aber dieser Versuch endet mit einem Mißerfolg. Erfolgreicher verlief der zweite Versuch, den er im Juni 1978 unternahm. P. Baschtschenko verbrachte drei Stunden in der Botschaft, aber nachdem er sie gerade verlassen hatte, wurde er aufgegriffen und in eine psychiatrische Klinik gebracht; anschließend verurteilte man ihn nach § 198 des Strafgesetzes der RSFSR wegen Verletzung der Paßordnung.

Der Anführer einer anderen Gruppe teilte G. Baschtschenko 1970 offen mit, dass „die sowjetischen Gesetze auf die Vernichtung aller Gläubigen ausgerichtet“ seien .... „Sie sperren uns nur wegen unseres Glaubens ein; im Land existiert keine Freiheit; es wird alles getan, um die Gläubigen zu schwächen und auszurotten – laßt uns in ein anderes Land fortgegehen“. G. Baschtschenko verkündete mehrfach, dass sie für den Fall, dass man sie auch weiterhin Strafen aussetzen würde, ihre Pässe mitbringen, die sowjetische Staatsbürgerschaft verweigern und eine Beschwerde an die Organisation der Vereinten Nationen schreiben würden.

Ähnliche Ankündigungen kamen auch von Gläubigen der Pfingstgemeinde aus anderen Gruppierungen.

Im Juli 1977 fahren Gläubige nach Moskau, mit dem Ziel, die amerikanische Botschaft aufzusuchen, aber sie werden zurückgeschickt, was die Bereitschaft zur Emigration in der Gruppe nur noch verstärkt.

So forderten beispielsweise die Gläubigen am 26. Februar 1978 auf einer Gebetsversammlung, bei der auch der Vorsitzende des städtischen Exekutiv-Komitees anwesend war, dass man sie allesamt aus dem Land ausreisen lassen sollte. Im Juni 1978 begibt sich P. Baschtschenko mit drei Kindern und seiner Ehefrau M. Tschmychalowa nach Moskau und „schlägt sich“ nach den Worten der Behörden „ mit Gewalt“ bis zur amerikanischenBotschaft durch. Etwas anders interpretiert diese Ereignisse der unmittelbar an ihnen beteiligte L.Baschtschenko: „Wir betraten die Botschaft und zeigten den Milizbeamten die Papiere, wegen denen wir eine Konsultation erreichen wollten. Man ließ uns nicht durch. Da beschlossen wir den Ausgang zu benutzen. Die Miliz hielt nur den Bruder zurück ... Später bekamen sie es dann mit der Angst zu tun: wenn wir uns so lange auf dem Territorium der amerikanischen Botschaft aufhielten, dann konnte das ja nur bedeuten, dass wir Vaterlandsverräter waren ... Dafür bekamen wir dreieinhalb Jahre ... Wir kündigten unseren Hungerstreik an ...Und verbrachten 50 Tage nur bei Wasser und Tee. Mein Gewicht fiel um 20 kg, Schwester Lida weurde sogar ins Botkinsker Krankenhaus gebracht. Aber etwas vermochten wir zu erreichen: unseren Brüdern und Schwestern wurde ein Wiedersehen mit uns in der Botschaft erlaubt; die amerikanischen Zeitungen wurden auf uns aufmerksam, und wir wären beinahe so etwas wie eine Sehenswürdigkeit für die aus Moskau eintreffenden Amerikaner geworden. Und da starb Breschnjew, und wir wurden von George Bush eingeladen, der zur Trauerfeier angereist war“. Im April 1982 erschienen 12 Personen aus der Familie Baschtschenko mit amerikanischen Flaggen und Losungen vor dem Gebäude des Exekutiv-Komitees des Stadtrats und forderten die Beamten auf, ihre Angelegenheit bezüglich einer Ausreise mit ihren Familien nunmehr zu einer Entscheidung zu bringen. Am selben Tag stellten sie diese Fahnen an den Toren und auf dem Dach ihres Hauses auf ... Am nächsten Tag ging keiner von ihnen zur Arbeit; sie traten an die Gläubigen heran und riefen diese zu Demonstrationen auf. Um die Familie entsteht ein Vakuum; den Behörden wurde der Befehl erteilt, sich nicht in die Ereignisse einzumischen, die auf höchster Ebene entschieden würden. Baschtschenko und Umychalowa saßen eine Zeit lang in der Botschaft; anschließenmd machte manihnen den Voschlag, nach Tschernogorsk zurückzufahren, um die Dokumente vorzubereiten und ausstellen zu lassen; danach sollten sie zunächst nach Israel und von dort in die USA ausreisen dürfen. In den Jahren 1982-1984 gelang es einer Gruppe von Gläubigen die Ausreise aus der UdSSR zu erwirken, aber in den Jahren 1987-1988 erhob sich eine neuerliche Welle der Emigrationsbereitschaft.

Im Zeitraum vom 16. September 1975 bis Anfang 1985 verließen insgesamt 200 Personen die Region; der Anteil junger Menschen bis 30 Jahre betrug annähernd vierzig Prozent. Die Gesamtzahl der Ausreisewilligen betrug 330 Personen (170 Erwachsene und 160 Kinder), die meisten von ihnen waren Russen. Der Anteil an Rentnern betrug etwa zwanzig Prozent. 1987 wurden 97 Familien (zusammen mit Kindern = 426 Personen) von der Ausreise-Bereitschaft erfaßt.

Im März 1986 reichte das Oberhaupt der Nowo-Sawetner Kirche, W.F. Masurow, bei internationalen Organisationen seinen Antrag auf Ausreise, zusammenmit seiner Familie, aus der UdSSR ein, „im Zusammenhang mit unserer schweren geistigen und materiellen Lage“. Er verkündete: „Ich glaube nicht an eine friedliche Koexistenz von Marxismus und christlicher Ideologie. Sie sind unvereinbar“. Die Ausreise wurde Masurow verweigert.

Auf diese Weise gibt die Emigration von Gläubigen aus den Pfingstgemeinden Zeugnis über die ihnen gegenüber angewendete staatliche Repressionspolitik. Aber auch die Gläubigen ihrerseits provozierten oft ganz bewußt eine Zuspitzung der Beziehungen mit den Organen der Staatsmacht. Eine große Rolle spielte hier der subjektive Faktor – die Führer einiger Organisationen lösten ihre eigenen Probleme auf Kosten ihrer Glaubensbrüder.

Frage (Wiliam Smirnow): Gibt es irgendeine Verbindung zwischen den Besonderheiten der Aktivitäten der christlichen Kirche und dem Auftauchen neuer protestantischer Organisationen in Sibirien?

Antwort: Im vergangenen Jahr wurde in Omsk die Konferenz „Protestantismus in Sibirien“ abgehalten, bei der es darum ging, dass die Protestanten in Sibirien ganz spezifische Merkmale besitzen. Erstens: protestantische Organisationen tauchten in Sibirien als Folge der staatlichen Repressionspolitik auf, denn die Gläubigen waren aus den westlichen Landesregionen nach Sibirien verbannt worden. Zweitens: die orthodoxe Kirche beschmutzte sich selbst aufgrund ihrer Zusammenarbeit mit den Behörden; faktisch besaß der weltliche Staat gleichzeitig auch eine Staatskirche. Mag sein, dass viele mit meiner Meinung nicht einiggehen, aber ich bleibe bei genau diesem Standpunkt. Deswegen genossen die Sekten in den sechziger bis achtziger Jahren eine dermaßen große Popularität.

Die Verbreitung des Sektierertums wurde stets als Aktion bürgerlichen Ungehorsams abgehandelt und war ein Hinweis auf die soziale Spannung in der Region. Das in den achtziger Jahren verabschiedete Gesetz über die Freiheit des Gewissens führte zu einer Renaissance der protestantischen Organisationen; großer Popularität erfreuten sich die protestantischen Organisationen, die sich nicht durch eine Zusammenarbeit mit der Sowjetmacht besudelt hatten, sondern, ganz im Gegenteil, schwerer Verfolgung und Unterdrückung ausgesetzt gewesen waren. Von 150 registrierten Gemeinden waren zwei Drittel protestantische Organisationen unterschiedlicher Schattierungen, davon 12-14 Pfingstgemeinden.

Menschenrechte in Rußland: Vergangenheit und Gegenwart
Sammlung von Vorträgen und Materialien der wissenschaftlich-praktischen Konferenz.
Perm, 21.-23. Juni 1999.
Verlags-polygraphischer Komplex „Swesda“ (Sterne; Anm. d. Übers.)


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