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L.A. Konowalow. Im Dschungel des GULAG

Man brachte mich 1942 nach Norilsk. Ohne Gerichtsverhandlung. Das Gericht tagte erst später.

Und alles begann 1938, als sie am 18. Juni den Vater verhafteten. Wir sahen ihn nie wieder. Hier ist eine Fotografie, das sind die beiden Mosgow-Brüder – meine Urgroßväter. Einer war Jurist, er starb 1918. Und das hier – ist der Vater meiner Großmutter, sein Nachname war Filatow, er stand in irgendeinem Verwandtschaftsverhältnis mit dem Sekretär unseres Gebietskomitees. Aber sie begegneten sich nie und hatten keinen Kontakt miteinander. Und mein Großvater arbeitete mit Garin-Michailowskij beim Bau, bei der Eisenbahnlinie, wenn ich mich nicht irre, als Streckenleiter. Im Bürgerkrieg kämpfte er auf der Seite Koltschaks, wurde von den Roten gefangen genommen und bei lebendigem Leibe in Tomsk verbrannt. Den Vater erschossen sie und uns wiesen sie aus, brachten uns in verschiedenen Bezirken und Dörfern unter.

Ich bin aus all diesen Verbannungsorten geflohen. Und ich lief nach Hause, nach Nowosibirsk, zur Großmutter. Schließlich schickten sie mich nach Tomsk in die Sakowskij-Kolonie. Von dort lief ich ebenfalls fort, aber sie griffen mich erneut auf, verurteilten mich und ich erhielt eine Strafe – drei Jahre. Sie schickten mich ins Iskitimasker Lager, in die Siedlung Loschok, in die obere Zone, in der die Blüte der Verbrecherwelt versammelt war, ungefähr 300 Mann, alle wegen schwerster Verbrechen verurteilt. Drei Lagerzonen gab es dort – eine untere, eine mittlere und eine obere. In der mittleren saßen nicht so schlimme Kriminelle wie in der oberen, - es waren etwa 1000 Mann. In der niederen gingen die Gefangenen schon ohne Wachbegleitung usw., das waren auch etwas über 1000 Mann.

Aber die obere Lagerzone war schrecklich. Dort töteten sie einen schon wegen einer gefangenen Ratte: jemand stellt eine Rattenfalle auf, und wenn du die Ratte aus dieser Falle, die du nicht aufgestellt hast, herausziehst, dann stecken sie dich selber hinein. Solche Regeln herrschten bei ihnen. Wir arbeiteten im Kalkbruch – ohne jegliche Spezial-Kleidung oder Schutzausrüstung. Nach einem halben Jahr war der Mensch erledigt. Der Kalk hatte die Lungen zerfressen – und der Mensch ging hinüber in eine andere Welt.

Mich rettete die Moskauer Kommission, die im Sommer 1939 alle Minderjährigen aus Iskitim (wir waren dort 30 Mann) abtransportierte. Mich verlegten sie in die Berdsker Sowchose – es gab dort ebenfalls ein Lager. Am zweiten Tag lief ich von dort fort. (Das ist so meine Natur – ich bin freiheitsliebend. In meiner Kindheit rannte ich von zu Hause weg, und jetzt aus dem Lager). Zur Großmama natürlich. Sie fangen mich wieder ein und geben mit eine neue Haftstrafe – die alte plus eine wegen der Flucht. Und dann brachten sie mich ins Gorschorlag. In einem Waggon mit dem ehemaligen Kommandeur des Sibirischen Wehrkreises. Bei ihm im Güterwaggon war alles voll – eine Unmenge Gepäck, na ja, und er selbst – immer noch der Kommandierende, wenn auch – gewesener. Es ist Winter, und wir sitzen in diesen Güterwagen und haben keinerlei Brennmaterial. Also verbrannten wir in den Öfen unser Schuhwerk, unsere Kleidung…

Sie bringen uns zur Bahnstation Tschugunaschka (1). Sie öffnen die Waggons: „Aussteigen!“ Und wir sind barfuß, haben alles im Ofen verbrannt. Um uns herum nichts als Schnee – weiß, funkelnd, er blendet in den Augen, und wir sind barfuß. Na ja, mit einem Schlitten brachten sie uns Bastschuhe. Wir zogen sie an und gingen los. Wir gehen Richtung Lagerzone, aber sie ist nicht zu sehen, alles ist mit Schnee zugeweht, lauter Türme im Schnee. „Grabt nur, hier sind Baracken, hier werdet ihr leben“. Wir gruben eine Baracke, eine Küche und andere Lager-Einrichtungen aus. Wir fanden dabei auch zwei Leichen – direkt in der Baracke; die lagen noch auf den Pritschen. Die, die vor uns hier waren, sind ausgestorben. Nun begann wir hier unser Leben.

Aber was für ein Leben das war – es ist schrecklich sich daran zu erinnern. Weshalb sie uns hierher brachten ist unverständlich. Arbeit gab es hier nicht, und selbst wenn: wir hatten ja nichts zum Anziehen, um zur Arbeit zu gehen. Sie gaben uns keinerlei Kleidung. Und dann der Hunger. Unser Kommandeur ging so weit, dass er schließlich Essensreste aus den Müllhaufen sammelte. Als ich das sah, war ich verblüfft: wie konnte ein Mensch derart verwahrlosen. Und nicht nur er.

Im März wurden wir aus diesem Lager in eine andere Lager-Außenstelle verschickt: drei Baracken, eine Küche und eine Wachstube. Mehr als 300 Mann brachten sie dort hin – eine Gefangenen-Etappe aus Nowosibirsk und eine aus Tomsk (den Kommandierenden sah ich nie wieder; keine Ahnung, wo er abgeblieben ist). Zwei Baracken waren aus Brettern zusammengenagelt, bei der dritten handelte es sich um ein Blockhaus; dort befanden sich die Sanitätsabteilung und das Isoliergefängnis. So nahmen wir eine der Baracken auseinander, um mit dem Holz in der anderen, in der wir leben sollten, den Ofen zu heizen. Eiseskälte – man wärmt den Bauch auf, während der Rücken friert. Wir fingen an, die Pritschen in unserer Baracke als Feuerholz zu verwenden. Wir hätten wunderbar Brennholz aus dem Wald holen können, aber wir konnten einen abgeholzten, riesengroßen Kiefern-Baumstamm, den nicht einmal zwei Mann umfassen können, nicht heranschaffen, und es gibt nichts, womit wir ihn zersägen könnten: aller unterernährt und bis zum Letzten erschöpft. Avitaminose, Nachtblindheit. Das essen brachten sie in einem Fass in die Baracke. Und wir haben keine Teller, kein Kochgeschirr, keine Löffel. Aus diesem Bottich schöpften wir den Inhalt mit dem heraus, was wir besaßen: einer Konservendose, einer Mütze, einem Überschuh.

Es lief mehr daneben, als wir in den Mund bekamen. Trinkwasser gab es im Lager überhaupt nicht. Wir sammelten Schnee, ließen ihn schmelzen und tranken ihn dann. Wie Hunde.

Zu all dem wütete auch noch das Fleckfieber. Die Leute starben täglich zu Dutzenden. Aus irgendeinem Grund befahl man, die Leichen oberhalb des Lagers, am Hang, zu begraben. Wir hatten keine Kraft, uns durch die drei Meter dicke Schneeschicht bis zum Boden hindurch zu arbeiten (und außerdem war der gefroren und steinig; man hätte tiefer ausgraben müssen), und so verscharrten wir die Toten einfach nur im Schnee. Aber sobald der Schnee auftaute, wurden sie zu uns in die Lagerzone geschwemmt.

Und da kommt so ein Vorgesetzter aus dem NKWD angefahren. Sie versammelten uns, die nur noch halb lebendigen „Dochte“, stellten uns notdürftig auf. Dieser Beamte hielt vor uns eine Rede. Ihr, so sagte er, seid vorübergehend von der Gesellschaft isolierte Menschen, aber das Land glaubt, dass ihr zurückkehren werdet; Ihr seid noch jung, die Zukunft steht Euch offen, und eure Qualen – sind die Schuld von Volksfeinden, die danach trachten, im Volk Hass gegenüber der Sowjetmacht zu säen. Und zwei Soldaten bringen durch die Wache den Haftanstaltsleiter, und der – aus dem NKWD – verkündet das Urteil, und der Regime-Chef wird an Ort und Stelle in der Lagerzone erschossen. Ich glaubte damals, das die Gerechtigkeit perfekt wäre. Naiv war ich, denn ich verstand nicht, dass das Verbrecher waren, welche tausende Menschen vernichtet hatten; sie wälzten einfach alles auf einen ab, vernichteten ihn, um selber sauber zu bleiben, al s ob sie hier nichts dafür könnten. Aber in der Tat tauchten nach diesem Vorfall Becken mit Trinkwasser im Lager auf und die Verpflegung war mehr oder weniger normal. Doch wir waren bereits erschöpft und geschwächt – Skorbut, Pellagra. Und dann noch dieser Typhus.

Ich hatte Glück, der Typhus raffte mich nicht dahin. Aber von den über 300, die wir einmal gewesen waren, blieben nur etwa 40 in der Lagerzone übrig. Das war 1941. Da holten sie uns zusammen und brachten uns nach Temirtau. Dort gab es ein zentrales Lager-Krankenhaus, ein ganzes Kranken-Städtchen. Dort begannen mich sogenannte „Kontriks“ zu betreuen – so nannten sie die nach §58 „wegen der Politik“ Verurteilten.
Irgendwie hatten sie erfahren, wessen Sohn ich war, und nun fingen sie an, mich in Erinnerung meines Vaters mit durch zu füttern. Doch die Dystrophie hatte bei mir bereits ein Stadium erreicht, in dem der Organismus keine Nahrung mehr aufnimmt. Trotz Hunger hatte ich Durchfall. Sie hatten mich schon ins Krankenzimmer für die Todeskandidaten gebracht. Dort lagen etwa 15-20 von uns. Essen mochten wir nicht, aber wir litten an quälendem Durst. Wir tranken Tee und aßen zum Schluss die nach dem Aufguss übriggebliebenen Teeblätter gierig auf. Aber vom Essen, allein von dessen Geruch, wurde einem übel. Der Organismus kann in dem Zustand nicht einmal den Geruch ertragen. Doch wenn jemand zu essen begann, dann hieß das er würde überleben, und sogleich wurde er aus dem Todeszimmer entfernt.

Ich überlebte nur dank einer der Krankenschwestern. Sie selber war keine Gefangene; wie sie aus Nowosibirsk hierher geriet, weiß ich nicht. Dieses Schwesterchen erfuhr von mir, dass ich Zuhause gern Dickmilch mit Zucker gegessen hatte, und begann nun, mich damit zu verpflegen… Und sobald ich gegessen hatte, entließen sie mich unverzüglich aus dem Krankenzimmer. Aber an dem Tag, als sie mir die Entlassungspapiere ausstellten, erfuhren wir: es ist Krieg.

Sofort war alles wie abgeschnitten. Sie kürzten die Ration, an weißes Brot war überhaupt nicht mehr zu denken (nur in der Krankenration war es noch enthalten), ebenso Zucker, Milch, Butter – alles verschwand, als wäre es nie zuvor vorhanden gewesen. Dafür tauchten die Ratten auf – in riesiger Zahl. Dort gab es Bretter-Fußwege, und so quiekten und trippelten sie darunter eifrig umher.

Als es dem Herbst zuging, floh ich erneut. Meine Natur verlangte das Ihre. Bei Stalinsk (heute Nowokusnezk) griffen sie mich auf. Natürlich brachten sie mich ins Lager zurück, aber nun bereits al Untersuchungsgefangenen. Dabei gaben sie einem zu der Zeit keine Strafe nach dem §82 mehr, so wie das früher der Fall gewesen war, sondern nach §58-14 – dem politischen. Und nach dem Artikel – Sabotage – wurde man erschossen! Aber zu meinem Glück kannten die Ermittlungsrichter mich: es stellte sich heraus, dass er zusammen mit meinem Vater am elektrotechnischen Technikum in Nowosibirsk studiert hatte, er war sogar bei uns Zuhause gewesen, zu Besuch gekommen. Und so bewahrte er mich vor diesem Paragraphen. Er schloss einfach die Akte und schickte mich zurück in die Lagerzone. Aber zwei Jahre Haftstrafe blieben mir noch. (Der Onkel befand sich zu dieser Zeit an der Front; später, nach dem Krieg, als er nach Hause zurück kam, sperrten sie ihn ein – der §58 hatte ihn eingeholt).

Doch im Lager herrschte damals vollendete Willkür. Die Brotration war auf 300 g zusammen-gestrichen worden, es gab keine Kleidung, und gearbeitet wurde – im Steinbruch. Zur Arbeit werden alle gejagt – Kranke, Alte, Invaliden – alle. Wer nicht geht – den hetzten die Hunde, und es kam vor, dass man sie auch direkt am Wachhaus tötete. Oder im Steinbruch. Im November drangen die Wachen einmal, mit Eisenstangen bewaffnet, in die Lagerzone ein und – verprügelten die Gefangenen. Weswegen – das habe ich nicht herausbekommen. Wie viele Knochen sie zertrümmerten, wie viel Blut damals floss! Mir zerschlugen sie die Nieren. Mein Urin war rot vom Blut, Schmerzen mit jedem Schritt. Und wieder komme ich in jenes Hospital, wo ich bereits vor dem Krieg lag.

Diesmal gab es dort noch andere Todeszimmer. Dort lagen Kranke mit schweren Hunger-Ödemen. Ich vermag nicht zu sagen, ob man sie hätte behandeln und heilen können –hier jedenfalls starben sie. Die Krankenschwestern kamen, gaben Spritzen – irgendeine gelbe Flüssigkeit, woraufhin die Kranken einen wilden Appetit entwickelten. Sie hatten schon nichts mehr essen wollen, aber nun wurden sie von einem wahren Heißhunger, einer unstillbaren Fresssucht befallen. Sie waren bereit, alles ohne zu kauen in sich hineinzustopfen. SO ging das eine halbe Stunde lang. Danach setzte das große Röcheln ein – bis heute habe ich es in meinen Ohren. Später verebbte es – Schluss, Ende! (Mir wollten sie auch so eine Spritze geben, aber ich ließ das nicht zu, ich war der einzige noch gehfähige Kranke im Krankenzimmer).

Eine Kommission traf ein – Aushebung in die Armee. Sie nehmen mich. Ich bitte darum zur Marine zu dürfen, aber das ist für meine Gesundheit nicht zuträglich. Also schickten sie mich zur Artillerie. Insgesamt wurden damals 108 Mann aus unserer Zone entlassen. Vier von ihnen kamen zur Artillerie, unter anderem auch ich. Ich kam zum 181. Artillerie-Truppenteil, und man schickte uns nach Leningrad, ins Inferno. Dort befand sich eine Artillerie-Fachschule.

Ich lernte dort allerdings nur eineinhalb Monate, dann kam die SMERSCH (wörtl.: Tod den Spionen; Hauptverwaltung für Gegenspionage des Volkskommissariats für Verteidigung der UdSSR; Anm. d. Übers.), es folgten Verhöre: „Warum hast du nichts davon gesagt, dass dein Vater verfolgt wurde?“ Aber wer hatte mich denn nach meinem Vater gefragt, als ich einberufen wurde? Die Gefängnisse Kresty, Butyrka, das Swerlowsker Durchgangsgefängnis, das Nowosibirsker, Krasnojarsker und – mit Beginn der schiffbaren Zeit 1942 – mit dem Lastkahn nach Norilsk. Dabei hatte ich weder einen Paragraphen noch eine Haftstrafe verkündet bekommen!

Was es mit diesen Lastkähnen auf sich hat – es ist sinnlos, das zu erzählen, es ist sowieso egal; wer nicht selber dabei war, kann es sich nicht ausmalen. Ich sage nur eines: auf diesem Kahn waren mehr als tausend Menschen, und ein Viertel von ihnen kam als Leiche in Dudinka an. An diesen Leichengeruch werde ich mich wohl bis an mein Lebensende erinnern… Ihre Ration aßen nur diejenigen, die in der Nähe der Luke saßen – Kriminelle, Landstreicher. Weitere ins Innere des Frachtraums gelangte schon nichts Essbares mehr.

In Norilsk kam ich zuerst zum „Nulewoj Piket“ (Lagerzone; Ausgangspunkt für die Erschließung von Bergwerken; symbolischer Punkt in der Geschichte von Norilsk mit Gedenkstätte, Umschlagplatz für Erze; Anm. d. Übers.) Nachmeiner damaligen Vorstellung war das keine schlechte Lager-Zone. Man muss sich nur einmal ausmalen: in der Kantine, am Eingang, stand ein Fass mit Keta-Lachs, in Stückchen geschnitten – nimm so viel du willst. Doch ich konnte dort nur zwei Tage verweilen, dann schickten sie mich nach Kollargon.
Was ist dieses Kollargon? Man sagt, dass dieses Wort in der Nenzen-Sprache „Berg des Todes“ bedeutet. Ein paar Nenzen sollen während eines Schneesturms dort mit ihren Rentieren von dem felsigen Berg hinabgestürzt und ums Leben gekommen sein. Vielleicht war es auch nicht so. Dort gab es einen Stein- und Marmorbruch. Die Arbeit verrichteten ausschließlich Strafgefangene rund um die Uhr in zwei Schichten von jeweils 12 Stunden. Ein Straflager also. Michbrachten sie im Frühjahr 1942 dorthin. Das Erste, was ich sah, als sie uns zum Steinbruch brachten, waren zwei nackte Männer neben einem Wachmann. Sie wurden wegen Ungehorsams bestraft – mit „Mücken-Fraß“. Die Mücken klebten an ihnen in einer dicken, geschlossenen Schicht. Selten hielt jemand eine derartige Folter länger als 5-6 Stunden aus. Die Menschen brachen tot zusammen, während die Mücken weiter das Blut aus ihnen heraussaugten.

1942 hatte ich eine Begegnung mit Sawenjagin. Wir waren in jenem Wintermit dem Schneeräumen an der Bahnlinie beschäftigt. Es gab schreckliche Schneestürme, „schwarze“. Dieses Schneeräumen galt als dermaßen wichtig, dass sie uns sogar Schnaps gaben: Frost unter minus 50 Grad, Windgeschwindigkeit 30 Meter pro Sekunde – und da bekamen wir zum Aufwärmen: 30 Gramm Schnaps und 100 Gramm Brot. Und alle zwei Stunden konnten wir uns in einer Holz-Bude aufwärmen. Wir sitzen da so, und plötzlich tritt ein Mann ein – Mantel, Filzstiefel – man sieht, dass es ein Vorgesetzter ist, aber wer genau, das wissen wir nicht.

Er fragt, wie wir leben, welche Beschwerden wir haben, ob wir Kontakt zu unseren Angehörigen haben. Und wir: was für einen Kontakt, wenn es kein Papier, keine Briefumschläge und kein Geld zum Kauf von Briefmarken gibt. Da gab er einem von uns einen 30-Rubel-Schein und meinte: da, kauft, was nötig ist, aber bleibt unbedingt in Verbindung mit euren Verwandten. Und dann bewirtete er alle mit einer „Kasbek“ (Zigaretten-Marke; Anm. d. Übers.). Wir nahmen alle Zigaretten aus der Packung; da zog er eine weitere aus der Tasche; er hatte also im Voraus gewusst, wohin er ging. Später, nachdem er fort war, erfuhren wir von der Wache, dass das Sawenjagin gewesen war. Nach ihm wurde Swerjew Leiter des Kombinats, der seinem Namen alle Ehre machte - er war eine Bestie.

Und dann fand noch eine Begegnung mit Urwanzew statt, mit eben jenem, der diesen ganzen Norilsker Reichtum eröffnete. Das war im Jahr 1948, als er sich bereits in Freiheit befand. Allerdings wussten wir nichts von ihm; wir waren der Meinung, dass Schmidt all das in Gang gebracht hatte (nicht umsonst gibt es dort den „Schmidticha“ – den Schmidt-Berg!). Von Urwanzew hörten wir erst später. Er kam zu uns auf die Baustelle (ich arbeitete damals beim Bau) – von kleiner Gestalt, im Überzieher, von einem Gefangenen nicht zu unterscheiden. Er bat unseren Brigade-Leiter: die Wohnung da ist für mich bestimmt, legt euch ins Zeug; ich möchte, dass ihr ganze Arbeit leistet. Und da kommt so ein MWD-Mensch mit seiner Frau und sagt zu Urwanzew: „Was machen Sie hier?“ Und der antwortet: „ich will wissen, wie es um meine zukünftige Wohnung bestellt ist…“ De MWD-Mann geriet in Wut: „Diese Wohnung – ist für mich! Hier wird gar nichts für Sie bestimmt sein!“ Damals waren sie gefürchtet. Es kam vor, dass ein ehemaliger Häftlinge nicht im Bus Platz nahm, wenn ein MWD-Angehöriger einstieg. Jedenfalls machte sich Urwanzew davon. Wie die Sache ausging, weiß ich nicht.

Einige Jahre vorweggreifend erzähle ich schon einmal von einem Vorfall, dessen Zeuge ich selber war. Das war im Jahr 1948 oder 1949, ich erinnere mich nicht mehr ganz genau; damals hatten sie mich gerade zum vierten Mal dorthin gebracht, zur Umerziehung. Sie hatten uns zur Schneeräumung an den Bahngleisen gebracht. Es herrschten minus 50 Grad, und wir waren nur halb bekleidet: zerrissene Überzieher, an den Füßen wattierte Schuhe aus ausrangierten Wattejacken. Alle waren abgezehrt, und es war völlig unverständlich, was die Seele eigentlich noch hochhielt. Die Arbeitsbefreiung wegen Krankheit gab einem der „Leimer“ – der Lagerarzt – auf folgende Weise: ab dem Abend hatte sich eine lange Schlange vor ihm aufgebaut: „Spargelstangen, Krepierer“ – er schritt die Reihe ab und meinte: „Du nicht, du hast dich schon drei Tage ausgeruht; ein anderer!“ – „Du, geh in die Baracke, du bist von der Arbeit freigestellt“ usw. Unter am Tage, zwischen 10 und 11 Uhr, begab er sich zum Karzer,, bewertete mit einem Blick die erfrorenen Hände und Füße, die ihm die Häftlinge entgegen streckten, klopfte noch kurz mit einem Hölzchen dagegen. auf das er den Namen des Freigestellten geschrieben hatte (wir nannten es „Kanten-Brett“), und das war’s: „Geh zum Durchgang“. Er führt ihn in die Sanitätsabteilung und fängt an. Er schneidet Finger, Hände, Füße ab, er amputiert sie ohne jegliche „Vereisung“ oder irgendeine Narkose. Der Betroffene schreit nur einmal kurz auf: „Ah!“ – Und er erwidert: „Na! Ist schon vorbei! Der Nächste!“ Und der nächste Patient setzt sich sofort hin und wartet darauf, dass er an die Reihe kommt. Und da gingen acht Mann, einander an den Händen haltend, geradewegs in die Tundra hinein. Der Wachsoldat brüllt: „Stehenbleiben!“ – Und sie gehen weiter, als ob sie es nicht hören. Der Wachmann schießt – einer fällt hin, die anderen gehen weiter. Noch ein Schuss, noch einer – aber sie gehen immer noch. Schließlich waren dann doch alle niedergeschossen, doch keiner war stehengeblieben, keiner hatte sich umgedreht. Fünf Männer – wie ein Herz und eine Seele – so etwas habe ich danach nie wieder gesehen. Inder Regel war es so, dass, wenn zwei etwas vorhatten, einer schließlich den anderen verriet. Deswegen beriet ich mich vor meinen Fluchtabsichten grundsätzlich mit niemandem und tat mich auch mit niemandem zusammen: ganz sicher hätte derjenigen mich verraten. Aber diese Fünf hier – die waren wie eine Einheit gewesen. Aber muss sich auch etwas anderes vorstellen – wie weit es der Aufenthalt in Kollargon mit ihnen hatte kommen lassen. Die Menschen sägten und hackten sich selber die Hände ab. Wie oft musste ich mit ansehen, wie jemand sich selber Krücken anfertigte, dann den Fuß abhieb, ihn verband und sich mit seinen Krücken zum Durchgang begab, Doch so etwas wie diese Fünf habe ich nie wieder erlebt oder gehört.

Ich war dort allerdings auch nicht die ganze Zeit. Im Herbst 1942 schickten sie mich nach Kureika. Dort befanden wir uns auf der rechten Seite, direkt an der Mündung des Flusses Kureika, und das Dorf, in dem Stalin seine Verbannungszeit verbrachte, lag links. Wir rodeten dort den Wald für einen Kartoffel-Acker, später gruben wir dann die Kartoffeln aus. Wir hausten in Laubhütten und Erdhütten – gemeinsam in einer Zone mit Frauen. Als die Nachtfröste einsetzten, schickten sie uns zurück nach Norilsk.

Von da aus rief man mich in die 3. Abteilung zum operativen Bevollmächtigten, der mir (endlich!) verkündete, weshalb ich angeklagt worden war. Es stellte sich heraus, dass ich noch als Soldat ein Jahr zuvor, als man uns nach Leningrad brachte, im Zug schlecht über Stalin gesprochen hatte. Zu wem das gewesen sein soll, weiß ich bis heute nicht. Und nun verurteilen sie mich deswegen, geben mir 10 Jahre. Meinen Widerspruch hörten sie sich gar nicht erst an. Das Gericht, die Gerichtsverhandlung – alles nur Schein. Ganz einfach – Norilsk brauchte Sklaven.

Zehn Jahre! Irgendwie setzte bei mir eine Art Bewusstseinstrübung ein. Ein Jahr war nur noch nach gewesen, und plötzlich hängen über die – zehn Jahre. Das war’s - das Leben ist zu Ende!

Und ich verlor jegliche Angst. Ich unternehme einen Fluchtversuch nach dem anderen, unter den unglaublichsten Bedingungen, zur Verwunderung von ganz Norilsk. Natürlich fangen sie mich wieder ein, aber ich versuche es wieder. Einmal, nachdem ich wieder einmal fortgelaufen war, stellten sie mich als Brigadeleiter auf. Und da kommt Frost mit einem heftigen Schneesturm. Und ich verkünde der Brigade: „Bei dem Wetter – Freistellung von der Arbeit. Die Leitung erkennt es nicht an, aber wir gehen trotzdem nicht zur Arbeit“. Und wir gehen tatsächlich nicht. Streik! Ich werde erneut verurteilt - wieder und wieder. Zwei Mal verurteilten sie mich zur Höchststrafe, änderten sie dann jedoch in zehn Jahre Haft ab. Vom Ende des Krieges erfuhr ich am 14. Juli; bis dahin hatte ich in der Todeszelle gesessen, in die natürlich keinerlei Nachrichten gelangten.

Damals führten sie mich ab in diese Todeszelle. Dem Aufseher hatte bei der Durchsuchung irgendetwas nicht gefallen; irgendetwas fanden sie bei mir – was genau, weiß ich nicht mehr. Dafür steckten sie mich in den „Kühlschrank“. Das war so eine Zelle, an deren Wänden sich Eis gebildet hatte, lediglich an der Tür gab es einen nassen Fleck. Dorthin kam man üblicherweise für 15-20 Minuten. Mich behielten sie drei Tage und Nächte dort, nur mit Unterwäsche bekleidet. Lediglich von Zeit zu Zeit, wenn ich vor Kälte vollständig erstarrt war, schleifte mich der Senior-Aufseher (in der Todeszelle haben junge Aufseher keinen Dienst, nur ältere Jahrgänge) aus der Zelle, denn selber war ich schon nicht mehr in der Lage mich überhaupt zu bewegen, und brachte mir eine „Freikarte“ zum Aufwärmen. Das tat er in Verletzung der geltenden Instruktionen, weil er Mitleid mit mir hatte. Aber später brachte er mich wieder zurück in den „Kühlschrank“. Und so ging es insgesamt drei Tage und Nächte.

Schließlich geriet ich nach meiner nächsten, besonders dreisten Flucht ins Zemstroi (Zement-Fabrik; Anm. d. Übers.). Das war das Gefängnis aller Gefängnisse! Man nannte es „Cottage („Landhaus“) N° 1“. Es lag innerhalb der Produktionsbasis, unmittelbar hinter der Großen Metallhütte, dicht bei der 8. Lager-Abteilung des Gorlag (zu der Zeit gab es in Norilsk drei Arten von Lagern – ein ITL, d. h. Arbeits- und Erziehungslager, wo hauptsächlich Kriminelle und Kleinkriminelle einsaßen, ein KTR, d.h. Zwangsarbeiterlager für Wlassow-Leute, Bandera-Anhänger – „Politische“, die nicht lesen und schreiben konnten, in deren Arbeitsaufträgen sich anstelle von Unterschriften Kreuzchen befanden, und das Gorlag – das staatliche Sonder-Regime-Lager (2) – hier saßen die „Intellektuellen“! Es war aus Bruchstein errichtet und fasste zwischen 300 und 350 Häftlinge, fünf oder sechs Zellen: zwei große für je 100 Mann, die anderen waren kleiner. Die Kleidung, die wir trugen war ausschließlich staatlich (finden bei einem ein Taschentuch oder, bewahre Gott, ein bisschen Kleingeld – dann brechen sie dir die Hände und Füße), dabei war ein Hosenbein blau, das andere – grün, die Hinterseite so rot wie ein Karo-As, und die Rückseite des Überziehers hatte ebenfalls eine andere Farbe. Es herrschte eine Nässe, dass man den Rücken nicht warm bekam. Der Fußboden war immer feucht, anfangs trat sogar Wasser aus. Die Pritschen waren mit Eisen beschlagen und ebenfalls nass.

Wir bezogen dieses Gefängnis am Frauentag, dem 8. März 1948. Man führte uns damals ins Bad. Dort war vor allem die “Crème de la Crème” der Norilsker Verbrecherwelt versammelt. Aber es gab auch solche wie mich, die nach § 58 verurteilt worden waren; aber es waren nur wenige; außer mir zwei Generäle, ein Pilot – insgesamt etwa zehn. Wahrscheinlich brachten sie uns hierher, weil sie damit rechneten, dass die Kriminellen uns umbringen würden. Und einem versetzten sie tatsächlich den Todesstoß. Doch gegenüber einigen verhielten sie sich auch recht wohlwollend). Und da überredeten uns diese Generäle, das Bad, die Wasch-Abteilung, so lange nicht zu verlassen, bis man uns nicht erklärt hätte, weswegen und mit welcher Haftdauer wir hier eingesperrt worden waren. Und diese Absicht ließen wir dann auch verlauten. Wir sitzen im Badehaus. Chodassewitsch, der stellvertretende Chef des Norillag, und Swetlitschnij, Leiter unseres „Landhauses“, kommen angefahren - mit Maschinenpistolen. Der öffnet die Tür: „Raus!“ – Wir schweigen. “Werdet ihr endlich rausgehen?” – Wir konnten nicht einmal mehr antworten, als das Schießen aus der Pistole losging. Wir brechen in Panik aus – der eine sucht im Bade-Trog Schutz, andere krochen unter die Bank. EinMP-Schütze schoss nach oben, auf das Gesims, aber diese beiden hier – Chodassewitsch und Swetlitschnij, besoffen bis zum geht nicht mehr, zielten direkt auf uns und erschossen uns wahllos. Sie töteten fünf oder sechs von uns. Es heißt, dass sie für diese „friedliche Niederschlagung“ die nächsten Sternchen an ihren Schulterklappenverliehen bekamen.

Zur Arbeit gingen wir bei jedem Wetter. Es kam vor, dass ganz Norilsk stillstand, die Sirenen heulten: das Wetter berechtigt zur Freistellung von der Arbeit, aber die Zementfabrik arbeitet. Die Arbeitsstellen lagen nicht weit entfernt, etwa 1,5 – 2 Kilometer (die Erzgrube 6/2 blieb weiter rechts) – ein Steinbruch im Felsen. Kein Bohrer, kein Sprengstoff, alles mit der Hand. Vorschlaghammer und Keil waren die einzigen Werkzeuge. Zuerst brachten sie uns ohne Handschellen dorthin. Aber dann… Neben dem Gefängnis floss ein warmes Bächlein, wir nannten es: „Golf Stream“ (Golf-Strom; Anm. d. Übers.). Um also nicht arbeiten zu müssen, gab es welche, die, sobald der Soldat sie nach draußen geführt hatte, in diesen Bach sprangen. Nun ja, wohin mit dem Durchnässten bei 50 Grad Frost? Erstmal ging es zurück ins Gefängnis, in die Isolierzelle. Doch dann funktionierte diese Nummer nichtmehr: er musste sofort Aufstellung nehmen und wurde zusammen mit den anderen zur Arbeit gebracht, was eigentlich den Tod bedeutete. Flucht? Fluchtversuche gab es nicht. Wenngleich die Wache es mit allen möglichen Mitteln so einzurichten versuchte, dass anscheinend ein Fluchtversuch vorlag, welchen sie dann entsprechend unterbanden. Am besten war es, den Gefangenen bei versuchter Flucht zu töten. Dafür bekamen sie dann nämlich jeweils 250 Rubel als Prämie. Und so waren sie sehr bemüht. Andererseits war der Steinbruch selbst schoneine solche Folter, dass die Menschen sich freiwillig den Kugeln aussetzten, um nur dem Steinbruch zu entgehen.

Es gab dort einen Wachmann, der schlichtweg Jagd auf solche „Ausbrecher“ machte: egal, von welcher Seite sich jemand aus der geschlossenen Formation herausbewegte, er schoss auf jeden Fall. Zwischen 600 und 800 Rubel brachte er pro Tag durch das Erlegen von Häftlingen zustande.

Aber danach führten sie uns in Handschellen und zudem auch immer in einer „Fünfer-Gruppe“ zusammengebunden. Auch wenn minus 50 Grad herrschten, gab es keine Möglichkeit sich aufzuwärmen. Es war sogar verboten sich zu unterhalten; wenn man es doch tat prügelten sie einen mit Schlauchstücken, die sie zuvor mit Sand gefüllt hatten – eine tödliche Aktion. All das geschah mit den Händen der Kriminellen; die Wache tat so, als hätte sie damit nichts zu tun.

Und keine Verstümmelungen! Wenn du dir, sagen wir mal, die Hand abhackst, wickeln sie dir Stacheldraht herum – und dann arbeite mal schön! Und wenn da irgendein beinloser Invalide war, fertigte ihm der Gefängnis-Tischler ein Holzbein an. Und dann jagten sie ihn sogar – auf den Felsen, wo er direkt dem scharfen Wind ausgesetzt war. Wenn er es fertig brachte, dieses Bein zu brechen oder anzuzünden, dann bekommt er am Abend bereits ein neues. Und es gibt auch niemanden, der wegen Krankheit freigestellt wurde. Am Schlimmsten ergeht es dem Blinden. Er steht auf dem Felsvorsprung und hat Angst, den nächsten Schritt zu machen, damit er nur nicht hinabstürzt. Und es kam vor, dass sie auf diese Weise erfroren.

Die Verpflegung war unabhängig vom geleisteten Arbeitspensum – alle erhielten 400 Gramm Brot am Tag plus eine wässrige Suppe. Aber die Norm musst du erfüllen! Zerschlag‘ das Gestein und lade die Bruchstücke auf den Waggon!

Bei den Kriminellen fing das große Aussortieren an: wer von ihnen ein Dieb „im Gesetz“ war und wer eine „Hündin“ oder von ähnlicher Schattierung. (Bei ihnen galt z. B. folgendes: dass, wenn einer an der Front gekämpft hatte, dieser schon nicht mehr „im Gesetz“ handelte – er war unsauber).

Am Morgen – Stille. Aber dann fing einer an, in der Zelle auf und ab zu gehen, ein weiterer gesellte sich hinzu, und so gehen sie zu zweit. Das heißt – sie beschließen, wen sie als nächstes erdrosseln. So gehen sie und gehen – und springen urplötzlich auf eine Pritsche, drücken ihrem Opfer ein Handtuch auf die Kehle, ersticken es mit einem einzigen Ruck und werfen es in Richtung Zellentür. Und dann liegt die Leiche da. Und wieder gehen sie –eine andere Pritsche oder manchmal auch dieselbe. Sie überlegen sich ein neues Opfer. Manchmal sind es drei Leichen am Tag, manchmal vier. Na und? Was geht sie das an? Zu der Zeit war die Todesstrafe bereits abgeschafft; man bekam stattdessen 25 Jahre Haft. Über die Haftzeiten wurden nicht zusammengerechnet. Wenn jemand als o einen Monat vorher 25 Jahre aufgebrummt bekommen hat und einen neuen Mord begeht, dann bedeutet das neue Vierteljahrhundert an Strafe praktisch, dass er für den Mord insgesamt nur einen Monat erhält. Aber trotzdem versuchten sie das immer auf einen anderen abzuwälzen. Er tötet jemanden vor aller Augen, und dann zwingt er irgendeinen „Muschik“ (d.h. einen „ungesetzlichen Dieb“) und sagt: „Klopf da mal an!“ – was so viel heißt wie: ruf die Wache und nimm den Mord auf deine Kappe. Die Wache versteht nur allzu gut, dass dieser „Muschik“ körperlich überhaupt nicht in der Lage ist zu töten und schon gar nicht einen „Dieb im Gesetz“, aber wozu den richtigen ermitteln, wenn dieser hier sich selber bezichtigt hat“. Ihm ist es sowieso egal. Für die Aufdeckung eines Mordes bekommt er Anerkennung und vielleicht sogar eine Lohnerhöhung.

Ich war etwa zwei Jahre im Zemstroij. Im Allgemeinen hielten die Menschen dort 6-7 Monate durch – mehr nicht. Ich schaffte es nur dank meiner Eltern, die mir einen derart gesunden Organismus mit auf den Lebensweg gegeben hatten.

Und einmal, im Jahre 1951, führen sie mich aus diesem Gefängnis und bringen mich, von Pforte zu Pforte – in die Nachbarzone, die 8. Lagerabteilung des Gorlag (3). Hier musste ich zum ersten Mal auf der Kleidung eine Nummer tragen: K-218. Im Gorlag liefen alle mit Nummern herum. Es waren große Nummern- auf dem Rücken der Häftlingsjacke oder des Hemdes, auf der Brust, auf der Hose oberhalb des Knies. Es herrschte strengste Haftordnung. Für das geringste Vergehen kam man für 30 Tage in die Isolierzelle. Und als Vergehen konnte im Prinzip alles gelten. Selbst eine „nicht ganz passende Unterhaltung“. Ganz zu schweigen davon, wenn sie bei der Durchsuchung Schreibpapier, das Mundstück einer Papirossi oder Kleingeld: das ist nicht ordnungsgemäß. Bei Nichterfüllung der Arbeitsnorm – 30 Tage Isolierhaft. Es gab nur körperliche Arbeit (sogar in der Produktions-Planungs-Abteilung, in der im Erziehungs-/Arbeitslager Häftlinge beschäftigt sind, mit Ausnahme des Leiters natürlich, gab es hier keine Gefangenen; auch die Arbeitsanweiser waren nicht die Unseren: Baugruben ausheben für den Bau von Häusern und verschiedenen Industrieobjekten. Dort herrscht ewiger Frost, deswegen wurden die Baugruben sehr tief ausgehoben – bis auf den felsigen Untergrund. Und natürlich alles mit der Hand, - Spitzhacke, Brechstange und Schaufel – das waren die einzigen mechanischen Geräte. Wir hatten noch nicht einmal unsere eigene Küche; das Essen wurde in der Kantine des Erziehungs-Arbeitslagers gekocht und in Behältern direkt in die Baracken gebracht. Löffel gab es nicht, nur Schüsseln, so dass wir wie Hunde fraßen. An häuslichen Diensten gab es lediglich einen Trockenraum und ein Bad.

Aber trotzdem war es hier viel besser, als in den Erziehungs- und Arbeitslagern. Es gab keine Misshandlungen von Seiten der Gefangenen selber. Keine Kartenspiele. Auf Kosten eines anderen leben – das war hier ausgeschlossen. Und die Brigadeleiter verhielten sich etwas menschlicher, als es bei den Kriminellen üblich war. Dort hatte man die Menschen bei Nichterfüllung der Arbeitsnorm so verprügelt, dass sie zu Krüppeln wurden. Hier gab es nur eines – die Isolierzelle. Und auch die Leute selber waren ganz anders – viele Frontsoldaten, Offiziere, vor allem russische.

Es kommt das Jahr 1953. Die Stimmung beginnt zu gären, es gibt Unterhaltungen zum Thema: „Wie werden wir leben?“ Fast alle waren zu einer Haftstrafe von 25 Jahren verurteilt, also lebenslänglich. Aber zuvor hatte es derartige Gespräche nicht gegeben. Doch plötzlich redete man darüber. Stalin war noch am Leben, und an eine Amnestie hatte man wohl auch im Präsidium des Obersten Sowjets noch nicht nachgedacht. Jedenfalls fingen irgendwelche Leute an davon zu sprechen, denn denkende Leute gab es im Gorlag eine ganze Menge. Ich war mit ihnen nichtbekannt, es war ein ganz anderer Personenkreis. Aber die Gespräche gelangten auch bis zu uns, in unsere Brigade: „War ein solches Leben nötig?“ Derartige Reden wurden hauptsächlich vom Brigadeleiter mit den Muschiks geführt (an seinen Nachnamen kann ich mich nicht erinnern, ansonsten waren wir aber Namensvettern), ich schwieg dazu, mischte mich nicht in fremde Gespräche ein. Je mehr Zeit verstrich, umso schärfer wurde das Gerede. Die Disziplin nahm auch bei den Aufsehern rapide ab; es kamen nicht mehr so viele Häftlinge in die Isolierzelle. Die Denunzianten schwiegen still. Zum März – noch unter Stalin – gab es sinngemäß bereits Aussagen, dass man so nicht weiter leben wolle. Man müsse seine Forderungen aufstellen, und man sollte uns die Frage beantworten, ob die Gesellschaft uns brauche oder nur das GULAG. Ein Allunionsstreik war notwendig. Wir fangen an, man unterstützt uns – sowohl das Zwangsarbeiterlager als auch das Erziehungs- und Arbeitslager… Wahrscheinlich deswegen, weil die Amnestie damals so eilig verkündet worden war, kannte man die Stimmung und wollte die Glut im Keim ersticken. Doch die Amnestie betraf lediglich die Kriminellen, und das Gorlag profitierte davon überhaupt nicht.

Und dann, in den letzten März-Tagen – die Sonne scheint, es ist warm – verkündet der Brigadier: „Morgen werden wir nicht zur Arbeit gehen. Wir streiken!“ Und es wurden Losungen hörbar wie beispielsweise: „Tod oder Freiheit!“ – Als wir von der Arbeit zurückkehrten, hängten wir diese Losungen bereits auf. Die Leitung versuchte zunächst, die Brigadeführer, die Organisatoren in den Bereich hinter der Lagerzone zu rufen, aber sie verließen die Zone nicht; da kamen die Lagerchefs selber in die Zone, um zu sprechen und zu überzeugen. Aber was konnten sie schon bewirken? Sie hatten gar kein Recht unsere Probleme zu klären und zu lösen. Wir sagten: „Soll doch Woroschilow herkommen, er kann entscheiden.“ Wir schufen ein Komitee, organisierten einen Wach- und Lagerzonen-Dienst. Den Vorsitzenden des Komitees kannte ich vom Sehen und auch vom Nachnamen her, aber jetzt habe ich ihn vergessen. Sie sagten er sei Frontsoldat gewesen, Oberst. Ich erinnere mich, dass er einen Schulter-Arm-Durchschuss erlitten hatte.

In der ersten Zeit war die Sanitätsabteilung noch in Betrieb, und mit Lastwagen wurden Lebensmittel gebracht. Ansonsten ließen sie niemanden mehr in die Zone, auch wenn Truppen ständig versuchten hinein zu gelangen. Aber wir hatten Berge von Steinen und Metallstäben gesammelt und diese neben der Wache, nahe den Wachtürmen, gestapelt, um uns wehren zu können. Ergebnis dieser Versuche in die Zone einzudringen waren zwei Leichen. Sie schossen vom Wachturm aus. Obwohl es von unserer Seite keine Versuche gab, die Zone zu verlassen. Wir hatten uns noch nicht einmal dem verbotenen Bereich genähert. Und die beiden Toten hatten auch nichts dergleichen unternommen.

Danach hörten sie mit der Lebensmittel-Zustellung auf. Mehr als eine Woche bekamen wir nichts zu essen – bis zum letzten Tag. Allerdings hatte das Komitee schon vorausgesehen, dass sie uns aushungern wollten, und so gab es einen Vorrat an Nahrungsmitteln, die vorher woanders eingespart worden waren. Auf diese Weise konnten wir also alle einigermaßen gut durchhalten. Doch um 12 Uhr nachts (allerdings gab es zu der Zeit praktisch keine Nacht, weil die Sonne rund um die Uhr schien) kam der Diensthabende mit dem lauten Ruf angerannt: „Schwernik ist gekommen!“ Ich weiß schon nicht mehr, wer tatsächlich dort war, aber es waren offenbar irgendwelche großen Bosse aus Moskau eingetroffen. Aber nicht die, die wir erwartet hatten. Sie wollten in die Lagerzone, um neue Verhandlungen zu führen, aber man bewarf sie mit Steinen. Gespräche kamen nicht zustande. Wir legten uns schlafen.

Zwei Stunden oder ein wenig mehr vergingen – dann hörte man einen wilden Schrei: „Sie erschießen die Leute!“ Ich springe auf, stürze aus der Baracke. In der Lagerzone ertönen Schüsse, Schreie, Menschen rennen zwischen den Baracken umher. Ich wollte eigentlich in die Baracke zurückkehren, bekam aber irgendwie ganz unbewusst spitz, dass es an einem anderen Ort sicherer wäre, den ich mir schon seit langem ausgekundschaftet hatte, lange vor dem Streik, - nämlich unter der Baracke. Unsere Baracke stand auf Pfählen; man konnte darunter kriechen; dort gab es an einer Stelle vereiste Wülste –vielleicht war beim Aufwischen des Fußbodens Wasser durch die Ritzen gesickert, und zwischen ihnen gab es so eine Art Höhlung. Und in diese Höhlung kroch ich nun hinein – ich weiß schon nicht mehr wie; zu einer anderen Zeit hätte ich da jedenfalls nicht hindurch gepasst.

Und in der Lagerzone ereignete sich etwas Unbegreifliches – ein herzzerreißender Aufschrei, ein Schuss, Flüche. das Aufheulen von Fahrzeug-Motoren, Hundegebell, welches sogar die Schreie und die Schießerei übertönte – wie viele von diesen Hunden mochten da gewesen sein? Über meinem Kopf dröhnten Schläge – das muss wohl innerhalb der Baracke geschehen sein – und Schreie. Danach tröpfelte Blut herab, sicher durch die gleichen Ritzen wie zuvor das Wasser, durch das sich das Eis gebildet hatte. Jetzt wurde es ganz von Blut bedeckt. Das ging ungefähr zwei Stunden so, vielleicht auch länger. (Bis heute gibt es selten eine Nacht, in der ich nicht diesen Alptraum habe: Schreie, Stöhnen, Motorengeheul, Schüsse, streunende Hunde und ihr Gebell.). Irgendwann erstarben die Schreie, während das Schießen noch eine Weile andauerte und erst gegen sechs oder sieben Uhr morgens zu Ende ging. Aber ich blieb in meinem Versteck. Ich begriff: wenn sie dich sehen, werden sie dich töten.

So blieb ich dort drei Tage und Nächte liegen. Ich hätte auch noch länger da unten ausgeharrt, doch der Durst quälte mich. Ich hatte auch schon Eis aufgeleckt, das sich unmittelbar neben mir befand, aber es half nicht. Außerdem fror ich entsetzlich. Ich drehte mich mal so, mal so, mal auf die eine, mal auf die andere Seite, um mich vom Eis wegzubewegen, aber ich fror trotzdem. In der Zone höre ich indessen eine gewisse Geschäftigkeit: Autos treffen ein, fahren wieder fort, irgendetwas wird darauf verladen. Am dritten Tag wurde es still. Es herrscht Grabesstille. Am vierten Tag kroch ich aus meinem Versteck hervor. Totenstille. Kein Lüftchen regt sich. Die Eingangstür der Baracke hängt nur noch lose in den herausgerissenen Scharnieren. Die Fensterscheiben sind eingeschlagen. Die ganze Schwelle ist voller Blut. Es sind keine Blutspritzer, sondern vergossenes Blut – hier muss eine riesige Blutpfütze gewesen sein. Jetzt ist sie geronnen und schwarz geworden. Ich stehe auf, versuche mich aufzurichten, geradezubiegen. Ich schwanke. Ich bin ausgehungert, aber ich mag nichts essen. Wohin soll ich gehen? In die Baracke – schrecklich. Ich begebe mich in Richtung Wache. Komme was wolle! Gerade war ich aus der Baracke herausgetreten – ein Schrei: “Stehenbleiben!” Da rennen zwei mit Maschinenpistolen. „Na dann!“ Und mit den Gewehrkolben im Rücken treiben sie mich zur Wache. Die Baracken stehen leer, die Fensterscheiben sind alle kaputt geschlagen. Keine Menschenseele ist zu sehen. Und in der Wache – alles voll Blut, Die hölzernen Wände, die Fußböden, die Türen, alle möglichen anderen Teile und die Steine im unmittelbaren Bereich. Sie führten mich aus der Zone und – ab in die Isolierzelle. Dort saßen bereits sieben oder acht Mann. Ich war der letzte. Sie stellen Fragen, aber mir ist nicht nach Unterhaltung zumute, ich bin ganz erstarrt. Aber ich höre, wie einer sagt: „Na ja, 18 Mann sind aus unserer Zone übrig geblieben“.

Wir saßen dort zwei Tage ohne Brot und Wasser. Schließlich holten sie drei oder vier von uns heraus, unter anderem auch mich, und zwei Wachmänner brachten uns in eine andere Lagerzone. Sie nannten sie die 12. Dort, wo der Schacht N° 11 liegt, gegenüber dem Schmidticha-Berg. Sie gaben uns bei der Wache ab, dann brachten sie uns in die Baracke. Eine große, in vier Sektionen unterteilte Baracke. Sogleich ertönen Fragen: woher? Wie und was? Wir berichten, und sie sagen: „Ja, als sie auf euch schossen, schlossen uns die Aufseher hier in den Baracken ein und verboten uns aus den Fenstern zu schauen“.

… In dieser Lagerzone herrschte im Vergleich zu dem, was ich vorher kennengelernt hatte, wahrer Kommunismus. Baracken im Gasthaus-Stil: Betten mit weißen Laken, Decken mit Bezügen, Nachttische, Papierblumen: In der Lagerzone – ein Kiosk. Keinerlei Unterdrückung. Arbeite, ruh‘ dich aus! Jeder Schachtarbeiter verdiente tausend Rubel. Sie kauften eine Ziehharmonika, lernen darauf spielen und lassen einen nicht schlafen.

Aber ein Käfig ist und bleibt ein Käfig. Und so unternahm ich 1954 meinen nächsten Fluchtversuch. Diesmal – mit Erfolg.

***

Und das ist alles, was ich berichten kann. Nur das, was ich selber gesehen habe. Und was ich nicht selber erlebt habe – darüber lohnt es sich nicht zu erzählen. Aber eine Geschichte will ich trotzdem anführen. Ich hörte sie viele Jahre später im Sanatorium „Iskra“ von einem der Teilnehmer jener Keilerei in der „Achten“ (der 8. Lagerabteilung; Anm. d. Übers.). Er verbüßte damals seine Haftstrafe in Norilsk, aber er ging ohne Wachbegleitung und lebt sogar schon außerhalb der eigentlichen Lagerzone. Er war als Fahrer bei der Feuerwehr tätig. Vor diesen Ereignissen hatten die Wachen ihnen befohlen, die Stahlbleche auf den Fahrzeughauben möglichst stark zu erhitzen – damit sie beim Durchbrechen in die Lagerzone den Stacheldraht besser einreißen konnten. Das ergab dann so eine Art Bulldozer. Und die Fahrzeuge wurden mit bewaffneten Soldaten und Zivilpersonen mit Brechstangen und Stöcken beladen. Sie drangen in die Zone ein – und fingen an, alles kurz und klein zu hauen. „Die Faschisten“ – so nannten sie uns damals – wurden zu Tode geprügelt, man schlug ihnen die Köpfe ein, brach ihnen das Rückgrat. Ein wahrer Fleischwolf. Weswegen das alles interessierte niemanden. „Faschisten“ eben – und fertig! Er erzählte davon, als wäre es seine persönliche Heldentat…

P.S. Kann es nach all dem, was ich durchgemacht habe, in der Welt noch etwas geben, wovor ich mich fürchten würde? Alle Qualen, die Menschen ertragen müssen, sind von Menschen geschaffen, die das Recht verloren haben, als Menschen bezeichnet zu werden, und doch sind es – Menschen. Und jene Gesetzlosigkeit, welche wir heute um uns herum sehen, entstand dort – in den Dschungeln des GULAG. Und was man noch alles auf so einem Boden aussäen und wachsen lassen kann.

Veröffentlicht von L.S. Trus

Anmerkungen des Veröffentlichers

(1) Bahnstation Tschugunasch, 150 km südlich von Nowokusnezk, 30 km nördlich von Spassk.
(2) So chiffrierte man diese Abkürzung – Gorlag – nicht nur die Gefangenen, sondern nicht selten auch die Verwaltung. Die längere vollständige Bezeichnung dieses Sonderlagers N° 2 für „besonders gefährliche Staatsverbrecher“, das in Norilsk und Umgebung gelegen war, lautete „Gornyj Lager“.
(3) Hier verwechselt L.A. etwas: im Gorlag gab es zu der damaligen Zeit insgesamt 6 Lager-abteilungen. Nach der Beschreibung zu urteilen ist hier möglicherweise die Rede von der 3. Lager-Abteilung, dem Straflager; es befand sich in der Siedlung Kirpitschnoje, zwischen Bruchstein- und Zementfabrik.

Zur Erinnerung an die Tragödie des Volkes
60. Jahrestag des Großen Terrors
80. Jahrestag der Kommunistischen Revolution
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der Erinnerung
Historischer Archiv-Almanach
Redakteurin und Verfasserin
Kandidatin der Geschichtswissenschaften
I.W. Pawlowa

Nowosibirsk
Verlag der Sibirischen Filiale der
Russischen Akademie der Wissenschaften, 1997


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